Voll der Durchblick

Das erste Mal, als ich die – damals zumindest für mich noch – neuen Riesenbrillen sah, saßen sie auf zwei Nasen zweier sehr zierlicher Frauen, die ich zuvor überhaupt noch nicht mit einer Brille gesehen hatte. Der Verdacht liegt nahe, dass sie eigentlich keine Brillen tragen. Frauen aus der Stadt natürlich, nicht aus der Kleinstadt. Die Brillen mochten angesichts des kleinen BMI der beiden Frauen einen großen Teil ihres Körpergewichts ausmachen und erinnerten mich spontan an einen alten Bekannten aus Kindertagen: Puck, die Stubenfliege. Die Augen der beiden Frauen wirkten sehr präsent; ich konnte gar nicht anders als immerzu hinzuschauen und mich zu fragen: Warum?

Im Laufe meines Lebens haben Brillen eine phänomenale Wendung hingelegt: Sie haben ihr Brillenschlangen-Stigma und die Kassengestell-Optik hinter sich gelassen – letztere haben sie gar zum modischen Statement hochgezaubert. Wir erinnern uns doch alle an Filmszenen aus den Sechzigern oder auch später, in denen unscheinbare Frauen mit Brillen und Hochsteckfrisuren, Sekretärinnen zumeist, von einem Mann irgendwann das unvorteilhafte Nasenfahrrad abgesetzt bekamen und der Haarknoten gelöst wurde und die Frau in diesem Moment vom hässlichen Entchen zur vorzeigbaren (Ehe-) Frau wurde. Gut, sie hat dann nichts mehr gesehen, aber hey, musste sie ja auch nicht, sie hatte ja jetzt jemanden, der das für sie tat.

Brillen hatten schon immer etwas damit zu tun, Menschen auch intelligent aussehen zu lassen – siehe Woody Allen. Oder wie meine französische Freundin einst angesichts einer meiner Brillen sagte: „Ça fait intello!“. Und sich als intelligent zu outen, ist ja für Frauen nicht immer vorteilhaft. Wir müssen also gut abwägen, ob wir unsere Brille unscheinbar oder auffällig wählen.

Und so ist die Beziehung von Frauen zu ihren Brillen auch eine Emanzipationsgeschichte, die in den Siebzigerjahren begann: Die Brillengestelle wurden riesig – nicht nur die Sonnenbrillen – und wie Statements vor sich hergetragen. Die Brillenschlange wurde zur Intelligenzbestie, die Brille zu einer politischen und modischen Aussage. Letzteres blieb sie auf jeden Fall: Sei es, dass in den Achtzigerjahren alle Brillenträgerinnen aus meiner Buchhändlerinnenklasse Brillen mit einem roten Kunststoffgestell trugen (Ça fait intello) oder später randlose Brillen die Reduktion und das Pure unterstrichen, das sich Besserverdienende gerne leisten.

Getreu dem alten Motto „Schau mir auf die Nase und ich sage dir, wer du bist“, können wir Brillenversierte gut erkennen, wenn sich ein Mann mit seiner ewigen Reinhard-Mey-Brille seit den Achtzigern einfach nicht weiterentwickelt hat. Schade für ihn. Allerdings könnte es auch Stilsicherheit und jegliche Abkehr von modischen Tendenzen bedeuten. Am Ende muss man doch wieder genauer hinschauen. Einige meiner Freundinnen würden sicher niemals ihre Brillenmode wechseln – und wenn, würde ich mir um ihre Persönlichkeitsveränderung große Sorgen machen.

Nicht so bei mir: Im deutschen Blitzerarchiv kann man sich, wenn man meine Fotos dort finden sollte, eine gute Übersicht über die Brillenmode der letzten 35 Jahre verschaffen: Ich habe schon alles getragen: klein und rund mit schwarzem Rand, klein und oval mit silbernem Rand, auffällige Cateye-Brille mit Schildpatt, rahmenlos, klein und rechteckig mit braunem Rahmen, Siebzigerjahre-Rundbrille, etwas größer mit durchsichtigem Rahmen und jetzt: XXL-mit außergewöhnlicher Form und einem breiten schwarzen Gestell. Und weil es beim Kauf dieser Brille aus dem Haus eines spanischen Designers noch eine Sonnenbrille zum halben Preis dazugab, bin ich nun auch noch Besitzerin einer XXL-Sonnenbrille, ebenfalls mit extravaganter Form. Ein neues, großes Brillenetui gab es natürlich auch dazu, denn die vorhandenen waren viel zu klein. Mit den neuen extra-großen Sehhilfen bin ich nicht allein, wie man bei einem sommerlichen Rundgang auch durch die Alsfelder Straßen sieht.

Der Nutzen von großen Brillen beschränkt sich aber nicht nur auf den Durchblick sowie das deutlich verbesserte Sichtfeld und den mit einem großen Glas einhergehenden Sonnenschutz, sondern man deckt ja auch leicht bis zu Hälfte des Gesichts ab: Falten – seit neuestem Erinnerungslinien genannt – können hier genauso gut versteckt werden wie der eine oder andere Krähenfuß oder Altersfleck. Auch kleine Augenringe von einer durchzechten Nacht – nicht, dass ich mich damit auskennte -, verschwinden gerne hinter einem gut platzierten, nicht allzu kleinen Brillengestell.

Mein Mann steht den wechselnden Brillenmoden eher skeptisch gegenüber. Offenbar mag er keine weiteren optischen Veränderungen in seinem Umfeld als die, die man ohnehin nicht aufhalten kann, und das sind in unsrem Alter ja schon eine Menge. Vielleicht wäre es ihm lieber – da sich das restliche Fahrgestell im Lauf der Zeit doch etwas vergrößert hat –, ich hätte noch die zierliche Brille unserer Anfangszeit auf der Nase. Zum anderen sind im inzwischen längst herangebrochenen Zeitalter der Gleitsichtbrillen die neuen modernen Looks auch stets eine kleine Investition. Aber hey: Intelligente Frauen mit großen Brillen verdienen ihr eigenes Geld und können es für was auch immer ausgeben. Also fast. Gut, dass meine Handtaschen eine gewisse Grundgröße haben, sonst hätte ich auch da nochmal investieren müssen – es kommt ja immer eins zum anderen!

Und dann gibt es noch jemand oder etwas, das meine neuen Brillen nicht so mag: Die Gesichtserkennung am Handy hat sich noch nicht so richtig drangewöhnt. Da ist die KI wahrscheinlich von einem Mann programmiert worden. Und so muss ich andauernd meinen Code eingeben, u.a. beim schnellen Bezahlen. Aber das macht ja nix:

Denn ich habe gemeinsam mit allen anderen Frauen und ihren Riesenbrillen voll den Durchblick!