Ruhe und Stille

„So, liebe Frau Schlitt, dann genießen Sie jetzt mal die Ruhe und die Stille.“ Das sagte vorgestern Abend ein junger Mann in hygienischem Dress zu mir, der mich freundlich anlächelte und mir Pfefferminztee für die nächsten vier Stunden in die Hand drückte. Wer jetzt denkt, vorgestern Abend hätte sich einer meiner dreizehn Raunächtewünsche – der nach mehr Ruhe, mehr Schlaf, mehr Achtsamkeit und Selfcare – erfüllt, der irrt – oder auch nicht. Denn irgendwie hat es das. Wenn auch nur vorübergehend. Und das kam so:

Ich war mit meinem Sohn in den Bunker der Radiologie in Marburg eingezogen und habe es nicht übers Herz gebracht, ihn abends in einem mit einer dicken, also einer sehr dicken, grauen Betonwand von der Außenwelt abgeschirmten Zimmer mit Knastcharakter allein zurückzulassen. Also packte ich Schlafi und Strickzeug aus, machte es mir gemütlich und wir schauten noch in aller Ruhe bei ein, zwei Tassen Pfefferminztee jeweils zwei Folgen „Father Brown“ und „Beyond Paradise“. Und dann war’s doch ganz schön – sieht man mal von den optischen Defiziten des Umfelds ab und davon, dass der Rund-um-die-Uhr-Teo-Shop auf dem Klinik-Gelände nicht auch nur die klitzekleinste Flasche Rotwein im Angebot hat. Radler und Red Bull ja, aber sonst. Naja. Also, wer vorhat, sich demnächst in den Katakomben der Uniklinik einer Strahlentherapie zu unterziehen, sollte entsprechend vorsorgen. Kleiner Hinweis: Es gibt keine Eingangskontrolle und die Besuche des Personals auf dem Zimmer halten sich in Grenzen und finden unter großem Abstand hinter der Betonwand statt. Man strahlt ja so fürchterlich. Für noch mehr Strahlen würde ich eine Lichterkette oder eine LED-Kerze, ein buntes Tischtuch und ein gemütliches Kissen empfehlen, falls das noch in den Koffer passt.

Ich meinerseits fand mich mit der Zwangs-Entschleunigung ab – vorsorglich hatte ich neben meinem Strickzeug noch zwei Bücher, zwei Laptops und meine ToDo-Liste mitgebracht, man soll es ja nicht gleich übertreiben mit den neuen Gewohnheiten. Der Kaffeenachschub am Tag war gesichert, die Teeversorgung am Abend ebenfalls, und schon am zweiten Tag freute ich mich auf einen lauschigen Wilsberg-Abend mit meinem Sohn, heißem Tee und meinem Strickzeug. Und mit viel Schlaf. So viel, dass ich spät abends noch fit genug zum Lesen war. Ein Traum in Beton! Am ersten Morgen wurden wir um viertel nach acht von der netten Schwester geweckt. Viertel nach acht! Da fängt sonst schon fast meine zweite Schicht an.

Ich resümiere: Mehr Schlaf, weniger Input (jetzt mal abgesehen von der Strahlenschutzunterweisung, die mich in längst vergangene und völlig überflüssige Physikstunden zurückkatapultierte) und mehr Ruhe hatte ich schon. Fehlte noch ein wenig Achtsamkeit und Selfcare. Dafür kaufte ich mir in der Krankenhausapotheke eine schöne Gesichtsbehandlung von Vichy, die ich sogleich anwendete. Auf dem erneuten Weg zum Teo-Container hatte ich mich zuvor mit Hilfe des Schneepflugs, des blauen Himmels und der in dicken Winterklamotten steckenden Menschen per Autosuggestion kurz in ein nobles Skigebiet gebeamt. Aber nur kurz. Ich wollte ja in der Radiologie bleiben und nicht in der Komplettgeschlossenen aufwachen.

Was so ein bisschen Selfcare doch ausmacht, dachte ich, als im Krankenhausbad mein neuer „täglicher Booster für gesunde Ausstrahlung“ in mein vom harten Kissen doch etwas zerknautsches Gesicht einzog, und freute mich, als ich in meinem Fast-allzeit-bereit-Kulturbeutel noch ein orangefarbenes, äußerst wohlriechendes Händepeeling vom letzten Weimar-Aufenthalt fand. Ach, wie schön! Ich schaute auf meine kosmetische Neuerwerbung: „Stärkend, aufpolsternd, feuchtigkeitsspendend. 89% Vukanisches Wasser (ich weiß, dass vulkanisch klein geschrieben wird, aber die bei Vichy nicht), rein an 15 Mineralien + Hyaloronsäure.“ Ich würde nach drei Nächten in diesem Wellness-Tempel zehn Jahre jünger aussehen, dachte ich, und fragte mich direkt, ob ich verraten sollte, wo ich diese Behandlung genossen hätte, aber ich will ja nicht, dass die Leute den Menschen im Strahlenbunker die Tore einrennen. Ginge auch nicht. Ist nämlich alles aus Blei und Beton.

Nun hätte ich natürlich die günstige und womöglich dieses Jahr nie wiederkehrende Gelegenheit auch nutzen können, um mit der Stuhlyoga-Challenge gegen den Wechseljahresbauch anzufangen, aber nach dem köstlichen Frühstück mit der unvermeidlichen Schmierwurst (die, die man in diesen kleinen Döschen zu Hunderten in den Kühlschränken älterer Menschen findet) und den Scheibletten (kauft eigentlich außer Kliniken und Altenheimen noch irgendwer Scheibletten?) auf einem weichen Brötchen musste ich doch erstmal ein wenig ruhen – in Form von telefonieren. Man hat ja Zeit im Wellness-Bunker.

Wieder einmal bewahrheiteten sich die alten Sprichwörter und Online-Weisheiten nach dem Motto „Du kannst den Wind nicht ändern, aber die Segel setzen“ oder so. Alles eine Frage der Haltung halt. Dennoch unternahm ich bei nächster Gelegenheit bei der Ärztin meines Vertrauens (die einzige, die zu uns reinkam) einen Vorstoß auf vorzeitige Haftentlassung. Als sie nach den Gründen fragte, hätte ich fast „Gute Führung“ gesagt, aber ich war ehrlich und sagte, weil es daheim halt einfach schöner ist. Und weil ich gehört hatte, dass die Sauna angestellt würde. Wie ihr euch denken könnt, war der Versuch erfolglos und wir mussten erneut an unserer inneren Einstellung arbeiten. Dazu deckten wir uns ganze liebevoll unseren kleinen Mittagstisch (will sagen, wir nahmen die Teller aus den Warmhaltedingern und legten unsere Servietten und das Besteck hübsch daneben) und plünderten zum Kaffee unsere von zuhause mitgebrachte Schnuggelkiste. Und dann ging es weiter mit Spielen, Puzzeln, Lesen, Schreiben – was man halt so macht, wenn man – um mit einer mir entfernt bekannten Yoga-Lehrerin zu sprechen – „spürt, wie nichts zu tun ist.“ Der Samstagstaumel mit Einkaufen, Waschen, Aufräumen und hier und da ein wenig Putzen zog an mir vorbei. Ich habe es kaum gemerkt und mir zum völligen Runterkommen noch eine Bunte am Kiosk geholt!

Nun bleibt zu hoffen, dass sich von den guten Anfängen – wenig Input, viel Ruhe, mehr Schlaf und ein wenig Selfcare – etwas mit in den Alltag nehmen lässt. Angeblich dauert es ja 66 Tage, bis sich eine neue Angewohnheit zur Routine entwickelt hat – das mal im Allgemeinen zu den guten Vorsätzen, an denen wir aktuell vielleicht noch hängen.

Ach ja: Eigentlich hatte ich ja vor, zur Entschleunigung direkt Anfang des Jahres den zweiten Karpaltunnel an der linken Hand operieren zu lassen. Das hat im letzten Jahr auf der rechten Seite auch einen guten Effekt gehabt, wenn auch nur kurzfristig. So als kleiner Tipp. Aber das bleibt mir ja. Einen Plan B sollte man immer haben.