Nachspielzeit.

Was für ein schönes Wort! Vor einer Woche ist die FIFA-EM in Deutschland zu Ende gegangen. Die neuen Europameister sind die Spanier, klar, aber wir Deutsche sind auf jeden Fall so etwas wie die Sieger der Herzen. Vielmehr Qualifiziertes kann ich zu dem Turnier nicht beitragen, aber ich kann mich, wie man weiß, ja auch sehr gut auf Nebenschauplätzen austoben. Und das in der Nachspielzeit. Denn so wie viele Spiele nicht in der regulären Zeit entschieden werden konnten, so habe ich es während der ganzen viereinhalb Wochen nicht geschafft, meine EM-Kolumne zu Ende zu schreiben. Und wie in den Spielen auch, musste ich sie mehrfach umbauen, um den Geschehnissen überhaupt nachzukommen. Und jetzt, sozusagen kurz vor dem imaginären Elfmeterschießen, will ich es doch zu Ende bringen, denn – im Gegensatz zur Nachspielzeit – finde ich Elfmeterschießen schon sehr, sehr dramatisch. Besonders wenn nach jeweils fünf Versuchen, die noch nicht zu einer Entscheidung geführt haben, nur noch ein Versuch – das seinerzeit als Golden Goal bezeichnete Tor – in den Sieg oder den (kurzfristigen) Abgrund führt.

Da will ich mich lieber mal sputen, auch wenn die Regeln im Fußball mitunter wankelmütig und oftmals schwer zu verstehen sind. Sie sind halt von Männern gemacht. So war über die „Präzisierung, dass Vergehen wegen unabsichtlichen Handspiels, die mit einem Strafstoß geahndet werden, gleich sanktioniert werden wie Fouls bei dem Versuch, den Ball zu spielen, oder bei einem Zweikampf um den Ball“ zu lesen (1). Tut mir leid, verstehe ich nicht. Macht aber nichts, denn wir wollen ja die weniger sportlichen Seiten des Fußballs beleuchten, wobei hier ausdrücklich nicht die unsportlichen gemeint sind.

Schauen wir uns zunächst den soziologischen Aspekt an: Soziologen sind sich einig, dass ein Ereignis wie die EM– sofern es friedlich und fair verläuft – allen Menschen guttut, gerade in Zeiten wie diesen, wo sich doch hier und da die Unzufriedenheit nicht nur ausgebreitet, sondern anscheinend auch dauerhaft eingenistet hat. Zu Unrecht, wie ich finde. Aber das nur am Rande. Endlich gab es also wieder Fußball auch für Unbegabte wie mich, die sich nur zu den Turnieren, dann aber mit Herzblut, Freundinnen, Aperol und leckeren Essen vor dem Fernseher niederlassen und mitbrennen. Nicht nur mit dem Spiel, sondern auch mit den Looks der Fußballspieler, die die Turniere in den letzten Jahren zum Who-is-Who der auffälligsten Haarfrisuren gemacht haben. Auch in diesem Jahr gab es da wieder allerhand zu sehen und zu kommentieren – von Marc Cucurellas (ja, der mit Nichthandspiel) unglaublicher Mähne über Antoine Griezmanns Retro-Schnitt (in der Fachsprache Heartthrob-Bob genannt) bis hin zu Robert Andrichs Lila und den unzähligen Zöpfen, die auf unterschiedlichste Art und Weise gebändigt waren oder auch nicht. Da waren Breitners Afro-Look und Netzers Langhaarfrisur, an die wir 1974er-WM-Kinder uns noch erinnern, nur schüchterne Vorreiter. Dass speziell die deutschen Fußballer Wert auf den perfekten Schnitt legen, zeigt sich am Beispiel von Emre Can. Nachdem bekannt wurde, dass Star Coiffeur Mustafa Mostafa (echt jetzt!) im Spielerlager war, um die Nationalspieler zu verschönern, soll Can gesagt haben, so ein akkurater Schnitt wie seiner sehe nach ein paar Tagen schnell unsauber aus. Den Einwand einer Reporterin, bei ihr würde ein Schnitt alle sechs Wochen reichen, konterte der Fußball-Profi klar und deutlich: „Sie sind auch eine Frau.“ (2) Da ist wohl was Wahres dran, aber man könnte natürlich schon ein wenig neidisch werden: Schließlich hatten die Jungs ja nicht nur einen Coiffeur und Physiotherapeuten aller Art mit in ihrem Camp, sondern auch einen eigenen Koch. Und der hieß auch noch Schmaus und wusste wohl genau um die seelische Wirkung von leckerem Essen. Nicht umsonst hat er den Spielern auch mal ein Schnitzel mit Pommes gegönnt. Also, wenn es nur darum ginge, hätte ich die auch bekochen können. Aber mich hat ja wieder mal keiner gefragt. Und ehrlich gesagt, hätte ich auch keine Zeit gehabt.

Blickt man ansonsten auf das Erscheinungsbild der Deutschen, so fällt unser junger Bundestrainer (der vom Alter her jetzt erstmals mein Sohn sein könnte) mit seinen Shirts und Hemdchen ein wenig ab – insbesondere im Vergleich mit den Italienern, die von Armani ausgestattet wurden. Bei Nagelsmann hat man schon eher den Eindruck, dass bestenfalls C(harles) & A(nthony) stylemäßig involviert waren. Aber was soll’s. Irgendwie ist er ja doch ein netter Kerl, noch dazu mit Botschaft. Und wenn alle optischen Stricke reißen, nehmen wir die für solche Fälle reservierten inneren Werte, auch wenn sie in einem Strickpulli stecken, den man bei Temu für 13 Euro nachshoppen kann.

Jetzt aber mal zu den Spielen. Ich versuche ja immer, Parallelen zum richtigen Leben zu ziehen und stellte dieses Mal schnell fest, dass ich dabei inzwischen einen grassen und mächtigen Gegner habe: Er heißt VAR (Video Assistant Referee) und soll für mehr Gerechtigkeit auf dem Feld sorgen. Das mag in Einzelfällen gelingen, aber wie alle Überkorrekten ist er halt auch eine ziemliche Spaßbremse. Wenn ich schon an das Wort „Goal Check“ denke, rollen sich mir die Fußnägel hoch, insbesondere natürlich, wenn ein Tor der Deutschen gecheckt wurde. Ehrlich, kaum hast du dich gefreut, die Arme hochgerissen, am Aperol genascht, schon ist es wieder vorbei. Man blickt beim Schiri-Team in besorgte Gesichter wie das eines Arztes, bevor er eine finale Diagnose ausspricht, für die er natürlich nichts kann, und krabbelt unverrichteter Dinge wieder auf die Couch zurück. Dem Belgier Romelu Lukaku wurden drei Tore aberkannt. Da kann schon mal der Wunsch aufkommen, im „Köllner Keller“, wo die Video-Überwachung stattfindet, zu randalieren. Rein hypothetisch natürlich. Viele meiner Freundinnen in unserer Expertinnenrunde sind der Meinung, dass die Goal und Penalty Checks tatsächlich für mehr Gerechtigkeit sorgen. Kann ja sein, aber ohne die VARs war alles irgendwie authentischer, finde ich. Wenn dann eine Fußspitze über einer vom Computer gezeichneten Linie über Wohl und Weh entscheidet, ist das eher bescheuert als gerecht. Und wo war eigentlich der Penalty Check bei Cucurellas Handspiel? Wenn schon, denn schon. Und dem Blick auf meine Real-Life-Übertragung hält der VAR auch nicht stand. Da muss ich mich auch jeden Tag für oder gegen etwas entscheiden, ohne dass vorher alle Parameter von allen Seiten beleuchtet und bewertet werden. Und womit? Mit dem Mut, auch mal was falsch zu entscheiden und auszuhalten.

Apropos aushalten: Gab es jemals schon mal ein Turnier mit so vielen Eigentoren? Eigentore tun mir in der Seele weh, sie verursachen mit Sicherheit ein großes Trauma beim Torschützen, der dann ja auch noch namentlich auf der gegnerischen Seite der Liste aufgeführt wird. Ich glaube, ich starte jetzt mal eine Petition, die Wertung von Eigentoren einfach abzuschaffen. Hätte wahrscheinlich mehr Aussichten als die Petition für eine Wiederholung des Spanien-Deutschlands-Spiels, die meines Wissens bisher noch nicht stattgefunden hat.

Ja, und dann habe ich mir nochmal ein paar Regeln abseits von Abseits und Dem-Tormann-die-Sicht-versperren angeschaut. Dieses Jahr galt ja erstmals, dass nur noch einer mit dem Schiri sprechen darf: der Kapitän oder sein Sprecher (wenn der Kapitän der Tormann ist und nicht aus seinem Kasten kommen kann). „Diese Maßnahme soll Rudelbildungen um die Schiedsrichter verhindern und für mehr Ruhe auf dem Spielfeld sorgen“, heißt es in der Begründung. Ob das was fürs echte Leben ist oder nicht, habe ich noch nicht abschließend beurteilt. Hängt wohl mit der Rolle zusammen: Mal bist du Schiri, mal Kapitän und mal das Rudel. Auf jeden Fall soll das alle Mitwirkenden zu mehr Respekt anhalten – und das wiederum ist ein guter Plan für das Leben außerhalb des Spielfeldes. Auch Selbstverantwortung der Spieler wird von den Regeln eingefordert, nämlich für „die Größe und Zweckdienlichkeit der Schienbeinschoner.“ Und bevor es jetzt zu profan wird, würde ich vorschlagen, dass wir damit einfach mal alle anfangen. Was auch immer unsere persönlichen Schienbeinschoner sind: Lasst uns Verantwortung übernehmen und Respekt zeigen, lasst uns auch ohne VAR fair spielen und lasst uns einfach ein wenig geilere Frisuren tragen. Auch in der Nachspielzeit.

(1)    https://www.chip.de/news/Experte-beim-Public -Viewing-Diese-Fussball-Regeln-gelten-bei-der-Fussball-EM_94708293.html (21.7.2024)

(2)    (https://sport.sky.de/fussball/artikel/emre-can-reagiert-auf-friseur-debatte-beim-dfb/13153932/34942) (21.7.2024)