Mehr Konfetti

Alle Welt schaut ja ständig auf die Uhr – natürlich nicht, um die Zeit zu sehen. Das wäre ja gerade so, als wolle man mit einem Handy telefonieren, ich bitte Sie! Nein, die Menschen möchten wissen, wie es ihnen geht. Sie tracken sich selbst: ihren Puls, ihre Herzfrequenz, ihr Gewicht, ihren Schlaf, die Sauerstoffsättigung und natürlich die Anzahl ihrer Schritte – und den damit verbundenen Kalorienverbrauch (der im Übrigen erschreckend gering ist). Ich war bis vor kurzem immun gegen solche Selbstüberwachungstools: Ich hoffe, dass mein Herz und mein Puls okay sind, weil ich so schön vor mich hinlebe – auch wenn ich manchmal Zweifel habe. Aber ich habe auch Vertrauen zu meinem Kardiologen, der mir irgendwie doch noch kompetenter vorkommt als ein sogenanntes „Wearable“. Ich weiß auch ohne digitale Ansage, dass mein Gewicht nebst BMI knapp am optimalen Bereich vorbeischrappt, und ich schlafe wie ein Engel, wenn man jetzt mal von vermeintlichen Schlafgeräuschen absieht, die allerdings nur von einer einzigen Person beklagt werden, deren Glaubwürdigkeit noch zu überprüfen wäre. Und ich laufe so viel wie ich laufe, mal mehr, mal weniger.

So lebte ich froh und glücklich, bis ich mich diese ganzen Menschen mit ihrem Schritte-Wissen so kirre machten, dass ich sagte: „Das will ich auch.“ „Aber das hast du doch“, sagten sie zu mir und zeigten mir die Health-App auf dem Handy, die ich bis dato stets erfolgreich ignoriert hatte. Nicht ohne Grund: Sie zeigte mir nämlich gar nichts an, womit ich etwas hätte anfangen können oder wollen. Hört sich blöd an, war aber so. Vielleicht wollte ich es auch einfach nicht. „Du musst dir noch die Schritte-App runterladen“, kam der nächste Ratschlag und genau das machte ich auch. Und während sich das alles so zurechtruckelte und ich direkt begann, mich über meine noch recht niedrige Schrittzahl zu freuen, frage mich die App (ja, sie fragte mich), ob sie die alten Aufzeichnungen (Welche alten Aufzeichnungen, häh?) verwenden und übertragen dürfe. Jo, dachte ich, warum denn nicht, und schwuppdiwupp hatte ich eine lange Reihe Diagramme, die meisten Angaben in Rot, viele zumindest in Orange, wenige in Grün. Ich konnte sehen, wann ich beispielsweise in Weimar oder in Wien war (GRÜN!), weil man auf so Städtetrips ja bekanntlich sehr viel läuft. Und ich fragte mich, warum ich weder aus Thüringen noch aus Österreich rappeldürr zurückgekommen bin – bei der Schrittanzahl. Ich kann es Ihnen sagen: Bei 10.000 Schritten verbraucht man lediglich 400 Kalorien, das sind zwei Sahneeiskugeln, wahlweise zwei knappe Aperol Spritz, nicht ganz voll, also ohne Mineralwasser und Eis wahrscheinlich. Und weil man sich an einem für meine Verhältnisse so ausgiebigen Wandertag zur Belohnung ja gerne mal beides gönnt, ist das mit dem Abnehmerfolg durch Laufen halt nur so mittel.

Dafür gibt’s Konfetti!

Ich war ganz aus dem Häuschen, als es beim erstmaligen Abrufen der Tagesleistung über 10.000 Schritte bei mir auf dem Bildschirm Konfetti regnete. Buntes, digitales Konfetti, das beim zweiten Abruf nicht mehr kommt. Und ich habe mich darüber gefreut. So sehr, dass ich es ab sofort immer haben wollte und im Urlaub jeden Tag ab einer gewissen Uhrzeit in die App spietze. Natürlich sorgte ich dafür, dass immer jemand neben mir saß, wenn ich auf die 10.000 zuging. Was im Urlaub mühelos gelang – obwohl ich das Handy gar nicht immer bei mir trug. Beispielsweise im Haus. Sollte ich es vielleicht doch IMMER umhängen? Ich ertappte mich dabei, dass ich morgens mit dem Hund weniger Freude hatte, wenn ich das Handy vergessen hatte. Wäre das vorher noch ein Zeichen für komplette Entspannung gewesen, rumorte es in mir: Meine Schrittbilanz war in Gefahr! Klar könnte ich 2.000 oder 3.000 Schritte selbst draufrechnen, aber die würden mir ja beim Konfetti fehlen! Ich konnte ja nicht nachbuchen. Kein Zweifel: Ich bin auf den ältesten pädagogischen Trick reingefallen: Belohnung!

Zuhause fehlten mir am Abend einmal, als ich echt schon Feierabend machen wollte, noch drei Schritte zu den berühmten 10.000. Dabei ist das Versprechen, dass man, wenn man täglich 10.000 Schritte läuft, fit und gesund bleibt, völlig an den Haaren herbeigezogen (https://www.geo.de/wissen/gesundheit/wissenschaftlich-widerlegt–die-10-000-schritte-regel-33364496.html). Ein Mythos, der sich hält, seit 1964 in Japan der erste Schrittzähler erfunden wurde. Der hatte natürlich nur dann einen Sinn, wenn es eine Schrittzahl gab, an die man sich halten konnte. Und so wurde der „Manpo-kei“ (zu Deutsch: „10.000-Schritt-Zähler“) zum Maßstab aller Laufschritte und ist heute noch die magische Konfetti-Grenze auf meinem Handy.

Dabei können 7.500 Schritte durchaus ausreichen, wie die Harvard Medical School – als sie glücklicherweise noch forschen durfte – ermittelt hat. Es könnte also für mich schon nach 7.500 Schritten Konfetti regnen. Und für Sie auch! Und dann vielleicht bei 15 000 (die ich noch nie erreicht habe) noch ein bisschen mehr. Oder es könnte ein Feuerwerk kommen.Tut es aber nicht. Mein Handy besteht ja auf die fragwürdigen 10.000. Und so lief ich an besagtem Tag mit den fehlenden drei (!) Schritten in meiner Küche im Kreis – und was tat sich: NIX. Jetzt merkt die App auch noch, wenn ich sie verarschen will, dachte ich unglücklich – bis ich in einem Anflug von Selbstermächtigung innerlich klarstellte, wer hier die Chefin ist. Nämlich ich!

Und so beschloss ich, den Schrittzähler als das zu nehmen, was er ist: ein weiteres, meist unnötiges digitales Tool, das eigentlich nur dadurch wichtig wird, dass ich es nutze. Jetzt bleibt es erstmal wieder unwichtig. Schön für mich. Und für das Konfetti in meinem Leben kann ich auch selber sorgen! Im Sitzen, bei einem Aperol oder einem Sahneeis.