Ganz schön mitgenommen
„Dann vielen Dank für Ihre Anregungen, Frau Schlitt, ich nehme sie gerne mal mit.“ Immer wenn das jemand zu mir sagt, weiß ich inzwischen ziemlich sicher, was passiert: nämlich genau nichts. Früher war ich noch überzeugt davon, dass, wenn jetzt eine Aufsichtsrätin oder ein Stadtrat eine meiner Beschwerden (die im zunehmenden Alter nicht weniger werden, anderes Thema), mitnimmt, sie oder er diese beispielsweise direkt an den Bürgermeister weiterleitet, dieser das Thema dann umgehend auf die Beratungsliste der nächsten Magistratssitzung setzt und ich vier Wochen später einen wie auch immer gebräuchlichen Vorschlag im Postfach habe. Nicht, dass jemals eine solche Verkettung logischer Umstände stattgefunden hätte. Vorrangig stellt sich da natürlich die Frage, wohin die am Ende der Fahnenstange vermuteten wichtigen Menschen das Thema denn immer weiter mithinnehmen, was sie ja stets versprechen? Wenn ich etwa wissen möchte, warum in Alsfeld so wenige Mülleimer und kaum Fahrradständer im Innenstadtbereich zu finden sind, warum die Straßenbeleuchtung an vielen Orten in der Stadt so minimal bis gar nicht vorhanden ist oder warum ich schon wieder einen Strafzettel ohne von mir ersichtlichen Grund bekommen habe, dann ist das – wenn man die Kette weiterspinnen würde – ja kein Fall für den Ministerpräsidenten, oder? Oder?!
Inzwischen weiß ich, dass Lösungen gar nicht vorgesehen sind. Wenn einer etwas irgendwohin mitnimmt, dann einzig und allein in das Nirwana der Prokrastination, wo es so lange zusammen mit anderen mitgenommenen Themen wabern wird, bis es sich in Luft aufgelöst hat. „Ich nehme es dann mal mit“, ist also genauso eine Abwehrfloskel wie „Ja, dann schauen wir mal.“ In diesem Fall weiß ich, wovon ich spreche: Evtl. denke ich über das Thema in fünf Jahren nochmal nach – falls es hartnäckig genug war, in dieser Zeit nicht von jemand anderem gelöst zu werden oder sich nicht zu verflüchtigen.
Wer also denkt, dass seine mitgenommene Frage, Anregung oder gar seine Kritik auf eine Liste kommt, in ein Projekt eingeht oder gar innerhalb eines übergeordneten Gremiums diskutiert wird, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass es diesen fantastischen Lösungsraum für Fragen, Anregungen und Kritik einfach nicht gibt. Mitgenommene Themen sind dem Untergang geweiht. Deshalb mögen insbesondere Kundenberater und Politiker den ominösen Raum im Fragen-Nirwana so gerne: Sie lieben nebulöse Anlaufstellen für Anfragen ihrer Kunden oder Wähler und sie können bei Rückfragen darauf verweisen, dass man sich dort, wohin man die Anfrage mitgenommen hat, dieser bald annimmt. Was genau so prokrastinativ ist. Denn man wird es einfach nicht tun.
„Mit- oder annehmen“ ist also ein durchaus vielschichtiges Wort. Letztens, als wir uns über verschiedene Theaterbesuche unterhielten, bei denen wir uns einig waren, dass wir eigentlich nichts verstanden hatten, aber das Bühnenbild, der Raum und die Tatsache, dass die Schauspieler alles auswendig können, ja einfach auch sehr beeindruckend sind, sagte ich den schlauen Satz. „Man nimmt ja immer was mit.“
Das ist ehrlich gesagt genauso blöd, oder? Wenn man irgendwo völlig umsonst war, was nimmt man dann mit außer der Erkenntnis, dass man seine Zeit für nichts vertan hat außer vielleicht für den Wein in der Pause? Den man wiederum natürlich gut mitnehmen kann. Bleibt zu hoffen, dass wir hinterher nicht so mitgenommen aussehen, womit wir bei einer weiteren Facette des Wortes „mitnehmen“ wären.
Warum sieht man eigentlich mitgenommen aus, wenn man sich krank und elend fühlt? Oder verkatert ist. Um das zu beantworten, muss man eine kleine Zeitreise machen: Die Verwendung von „mitnehmen“ in dieser Bedeutung ist schon sehr alt. Vorläufer war der Ausdruck „mit sich nehmen“, der schon Luther in seinen Tischreden im Sinne von „mit in den Tod reißen“ verwendete (was ja dann auch wiederum zu den todgeweihten mitgenommenen Themen passt). Außerdem bedeutete dann im 17. Jahrhundert „jemanden mitnehmen“ so etwas wie „jemanden bestehlen“. Kaum dreihundert Jahre später sieht man auf diese Weise mitgenommen aus und nimmt Dinge irgendwo mit hin, von wo sie niemals zurückkehren.
Letzteres ist zumindest für die KI noch schleierhaft: Gefragt, welche Pendants es zu „Ich nehme das mal mit“ gibt, antwortet sie tatsächlich und allen Ernstes „Diese Ausdrücke signalisieren, dass man das Thema ernstnimmt und weiterverfolgt.“ Als Alternativen mit gleicher Bedeutung schlägt sie unter anderem vor: „Ich werde mich darum kümmern.“ oder „Ich werde das prüfen und in die Wege leiten.“ Und „Das nehme ich als Auftrag mit.“ Da ist wohl noch ein bisschen Training nötig. Aber die KI-Ära hat ja dem Vernehmen nach gerade erst begonnen. Wir kennen all diese Worthülsen natürlich irgendwoher und wissen, dass sie bei ihrer verlogenen Schwester im Floskelreich gut aufgehoben sind. Diese Info sollte sich die KI mal mitnehmen, sonst bleibt sie der menschlichen Heimtücke ewig hinterher.
Und falls ihr mir etwas zu sagen habt: Immer her damit, ich nehme es gerne mit! Und wo das dann landet, könnt ihr euch vielleicht denken, denn ich nehme es wirklich mit!