Urlaubsmorgen

„Im Urlaub werde ich jeden Morgen ausschlafen und dann einen Kaffee holen, mich damit wieder ins Bett legen und lesen.“ So sieht für mich der perfekte Urlaubsmorgen aus. Bei genauerem Hinsehen und ausgiebigem Kramen in der Erinnerung sah als kinderlose Singlefrau jeder Samstag- und jeder Sonntagmorgen für mich so aus. Vorausgesetzt, ich wollte. Wenn ich nicht wollte, sah er anders aus: Frühstücken gehen mit Freundinnen, shoppen. Manchmal sogar putzen! Jahre, gefühlte Jahrzehnte lang, gab es solche Tage für mich praktisch nicht. Weder im Alltag noch im Urlaub. Sie waren jenseits meiner Vorstellungskraft verschwunden. Und als es sie wieder hätte geben können, habe ich es lange nicht gemerkt. Ich war so sehr in meinem Kinder-Arbeits-Haushalts-Modus, dass ich immer einfach aufgestanden bin, um irgendwas zu tun. Denn zu tun gibt es immer was. Erst im vergangenen Jahr im Urlaub bemerkte ich, wie man es auch machen kann. Die Kinder schliefen lange, das Wetter war so lala, die Wohnung musste nicht aufgeräumt werden, der Akku am Notebook war leer. Der Kaffee war in Windeseile fertig und ans Bett gebracht. Von mir für mich. Und dann roch er so lecker im ganzen Schlafzimmer. Und ich las und las und las. Fünf Bücher in zehn Tagen, denn ich stellte fest, dass man im Urlaub auch abends noch im Strandkorb sitzen und lesen kann. Und ich musste mich morgens und abends eigentlich jedes Mal kneifen, da ich es nicht glauben konnte, dass ich nicht nur nichts zu tun hatte, sondern dass keiner meiner Familie was von mir wollte.

Als nun der Weihnachtsurlaub bevorstand, in den mit meinen allerletzten Kräften gerade noch so hineinrobbte, hatte ich auch so eine Vision von kaffeetrunkenem morgendlichen Lesen unter noch warmen Decken, doch irgendwie wurde es nichts. Jeden Morgen war was anderes. Noch letzte Jobs erledigen, den frühen Einkaufswurm fangen, heimlich Geschenke verpacken, wenn alle noch schlafen, Schönheitstermine, Frühstücksverabredungen, Mittagessensverabredungen, Mehrwertsteuermeldungen – alles Dinge, die einem ausgedehnten Lesevormittag im Weg standen. Und jeden Morgen fanden sich neue. Selbst am Neujahrstag. Und dann? Dann reichte es mir. Besser gesagt, meinem offenbar schlaueren Ich, meinem Körper nämlich, der sich endlich einmal sinnvoll über mich hinwegsetzte. (Sonst setzt er sich zwar auch über mich hinweg, aber immer nur zum Zwecke der Unvernunft: Noch was essen, noch was schnuggeln, noch ein Gläschen Wein, noch eine Zigarette und lieber doch kein Sport….): Ich wurde krank. Und zwar schnell und spontan. Schon am Neujahrsnachmittag konnte ich kein Wort mehr sprechen, worauf meine Mitbewohner mit durchaus zwiespältigen Gefühlen reagiert haben mochten: Zur Sorge um die kranke und somit funktionsunfähige Mutter gesellte sich eine seltene Freude an der ungewohnten Ruhe und Kommentarlosigkeit zu vielen Alltagssituationen. Ich lag frierend und heiße Zitrone trinkend auf der Couch und war so krank, dass sogar die Männergrippe meines Mannes dagegen verblasste. Er bediente mich mit Halsschmerztabletten und heißen Getränken und meine Söhne zuppelten die Wolldecke über meine in dicken Socken steckenden Füße, damit ich rundum schön verpackt war. So wie früher, als ich klein war und meine Eltern nach mir sahen. Und es durchfuhr mich trotz Elend ein unglaubliches Glücksgefühl. So schwitzte ich und schlief vor mich hin, sehr schlecht im Übrigen, da sich das Gedankenkarussell drehte und drehte und drehte. Am nächsten Tag hatte ich trotz Urlaub einen Tag im Büro eingeschoben, zu dem noch andere Beteiligte anreisen würden. Obwohl ich wusste, dass ich a) keine Augenweide war und b) niemand in meiner Nähe sein wollte, machte ich mich auf die Socken und blühte – waschechte Workaholicerin – für ein paar Stunden regelrecht auf, bevor ich am Abend wieder in mich zusammensackte. Zwei Termine – ein Kneipenabend und ein Frühstücksmorgen – fielen dem grippalen Infekt zum Opfer und erstmals – genau gesagt am 3. Januar 2020 – saß ich bis kurz vorm Mittagessen bei der dritten Tasse Kaffee im Bett und las das Buch, das ich mir selbst zu Weihnachten geschenkt hatte. Unterbrochen nur von kleinen Hustenanfällen und Nasenputzen. Es war sooooo schön! Danke, liebe Erkältung. Als ich endlich in Erwägung zog aufzustehen, kamen meine Söhne auf der Suche nach Mittagessen an meinem Bett vorbei und wunderten sich sehr über ihre wesensveränderte Mutter, die in diesen Tagen kaum einmal am Schreibtisch saß, dafür Couch und Fernseher blockierte und sich – fast als sei sie ein Mann geworden – genussvoll in ihrem Elend suhlte.

Viel zu kurz weilte diese kleine Auszeit. Ich erholte mich schnell – kein Wunder bei dieser guten Pflege. Wie immer nach dem Jahreswechsel und dem Urlaub versuche ich jetzt, etwas Gutes daraus in den Alltag zu retten. Ob’s gelingt?