Überraschung!

„Weihnachten ist ein Fest der Überraschungen.“ So sagte es Janine Kunze diesen Freitag alle halbe Stunde in der Radiowerbung, und ich dachte, wo bitte ist die Überraschung bei einem Fest, das hauptsächlich aus Ritualen und Wiederholungen besteht? Das eigentlich so immergleich ist, dass man sich schon über einen neuen Weihnachtshit (von Elton John und Ed Sheeran) oder einen neuen Weihnachtskrimi (Nord bei Nordwest) freut wie ein kleines Kind. Eine Woche noch bis Heiligabend und immer noch gab es viele, viele Dinge zu tun – auch nichts Neues. Genauso wenig wie die Frage, wann man jetzt noch die letzten Geschenke kaufen könnte, wenn man bis zum vorletzten Tag vor Weihnachten meint arbeiten zu müssen? Die Zeit rast schneller im Dezember – ist das eigentlich schon mal von einem Physiker erforscht worden? Wann könnte man die restlichen Geschenke und Karten verteilen, die noch gar nicht alle geschrieben sind? Wann und wo, die Fragen sind immer gleich, die Antwort auf die Frage „Wer?“ auch: ich natürlich.

Am Freitagabend also, nach einem langen Tag mit mehr als einer frustrierenden Begegnung, backte ich noch schnell einen Kuchen, der am nächsten Tag mit einer großangelegten weihnachtlichen Kuchenverschickung ins Ahrtal gehen sollte. Dann schnell Abendessen, dann nochmal kurz an den Schreibtisch. Auch hier war kein Abweichen von den täglichen Routinen geplant oder abzusehen. Doch zwischen schnell dies und ganz schnell das schnitt ich mir – getreu meinem Motto – sehr schnell die Kuppe des rechten Mittelfingers mit der Brotschneidemaschine weg. Überraschung! Janine Kunze hatte doch recht!

Wir stillten die Blutung, verpackten den Finger, zogen einen Gummischutz drüber und weiter ging es, der Schreibtisch wartete ja – das Ritual! Das Schreiben ohne rechten Mittelfinger, noch dazu, wenn er schmerzt und puckert, erwies sich als mühsam. Und als wir drei Stunden später den Finger für eine kleine Kontrolle auspackten, reifte sehr schnell der Entschluss, dass sich das doch nochmal ein Arzt anschauen müsste. Oder eine Ärztin natürlich. Eine Expertenperson halt. Der Ärztliche Bereitschaftsdienst, den man in solchen Fällen des Abends und des Nachts kontaktieren soll, war – als ich mich bis zur entsprechenden Ansage durchgeklickt hatte – überlastet und riet mir, es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu probieren. Sollte meine Situation lebensbedrohlich sein, wäre es wohl besser, jetzt den Notarzt zu verständigen, schlug mir die Hotline vor. Sie ist wirklich hilfreich, finde ich, wer käme da schon drauf? Ich schaute auf meinen Finger und hielt Notarzt für ein klitzekleines bisschen überdimensioniert. (Obwohl: Als ich später im Arztbrief von einer Fingerkuppenamputation las, dachte ich, dass es möglicherweise doch ein Fall für den Notarzt hätte sein können.) Aber es musste ja was geschehen: Ohne das viele Blut sah man genau, dass ein Teil der Fingerkuppe fehlte (das lag jetzt wohl bei den Brotkrümeln) und dass ein beachtliches Stück Fingerkuppe nur noch an einem kleinen Stückchen Haut festhing. Sehr unwahrscheinlich, dass das unter einem bloßen Heftpflaster wieder anwachsen würde.

Es half nur der direkte Draht ins Alsfelder Krankenhaus. Und jetzt kommt’s – Überraschung: Ich sollte direkt kommen, alle waren freundlich und kaum war eine halbe Stunde um, war meine Fingerkuppe wieder angenäht. Ich als alte Stick- und Häkeltante war begeistert von der Fingerfertigkeit der Ärztin, der ich beeindruckt zuschaute, als mein betäubter Finger aus seinem OP-Loch ragte und nichts mit mir zu tun zu haben schien. Am Ende zierten sieben ordentliche Stiche meine Fingerkuppe und es besteht die Hoffnung, dass alles wieder zusammenwächst, bis auf das Stückchen Haut, das mit den Brotkrümeln entsorgt wurde, ich hoffe, im Biomüll. Der Besuch hatte sich also gelohnt – das fanden zumindest die Ärztin und ich, als ich frohen Mutes und mit einem dick verpackten Mittelfinger um halb zwölf in der Nacht den Heimweg antrat. Frohen Mutes, weil ich dachte, wow, wo lebst du eigentlich? In einem Land, in dem mir Menschen abends um elf die Fingerkuppe annähen. Mit sterilem Besteck, jeder Menge Verbandszeug und netten Worten. Dankeschön!

Für viele weihnachtliche Aufgaben könnte ich mich jetzt also erstmal abmelden: Geschenke verpacken, Essen kochen, Kuchen backen, Karten schreiben. Auch die unweihnachtlichen Jobs am Schreibtisch könnte ich liegen lassen. Könnte ich. Allerdings bin ich grade dabei, die Neunfinger-Schreibmethode zu perfektionieren. Und da bin ich schon ganz weit vorn, wie ihr lest. (Fehler gehen in diesem Text natürlich ganz allein auf den Riesenverband!) Und die vielen angefangenen Sachen einfach schieben, bis sie mich nach der Genesung überrollen? Ich weiß ja nicht. Außerdem könnte einem so ein erster Brotmaschinenunfall im Alter von 54 Jahren auch schnell mal als Selbstzerstümmelung ausgelegt werden, um in der Weihnachtswoche auf der faulen Haut zu liegen. Ist eh nix für mich. Obwohl ich noch nie so einen guten Grund hatte, auch in diesen Ferien NICHT den Keller aufzuräumen. Und ich kann jetzt guten Mutes Convenience-Food aller Art verwenden: Gewaschenen Salat, fertige Soße, Maggi-Fix. Nicht, dass ich das nicht schon täte, aber jetzt habe ich – außer hausfraulicher Faulheit – auch einen echten Grund dafür.

Also, schauen wir mal, was so geht – ein wenig werde ich mich wohl pflegen lassen, aber im Großen und Ganzen wird es wohl so werden – wie immer!

Ich hoffe, bei euch auch. Und wenn nicht wie immer, dann hoffentlich schöner!