Treue
„Treue ist nur ein Mangel an Gelegenheiten!“ Das sagte Werner eines Tages zu mir. Wörni war der Freund der älteren Schwester meiner Freundin. Meine Freundin und ich waren Anfang zwanzig, Wörni sicher schon vierzig. Und er sah aus wie Keith Richards. Wir trauten ihm alles zu, und das war wahrscheinlich durchaus gerechtfertigt. Und dass er mit vierzig über jede Menge Altersweisheit verfügte, stand für uns natürlich vollkommen außer Frage. Wir hingen an seinen Lippen und lauschten fasziniert seiner rauchigen Stimme, als er über die Treue schwadronierte, in die wir in unseren frühen Jahren noch so viel Hoffnung setzten…
Im Leben begegnet man der Frage nach der Treue ja durchaus ab und an. Bei der Hochzeit beispielsweise sind die meisten von uns ja noch bester Absicht, aber was, wenn die Gelegenheiten plötzlich zu viele würden? Also, ich wüsste nicht, was ich täte, wenn plötzlich George Clooney bei mir klingeln würde, weil er sich zufällig auf meiner Webseite verirrt hat und daraufhin spontan beschlossen hat, seine Beuteschema von Model-Anwältin auf Plus-Size-Schreiberin zu verändern?! Darüber kann ich natürlich gut spekulieren, weil das vermutlich nicht vorkommen wird, aber wer weiß denn schon wirklich, ob er oder sie das mit der ewigen Treue so durchhält? Und wenn, dann hat vielleicht die Person, der unsere Treue gilt, schon längst die eine oder andere Gelegenheit beim Schopf ergriffen, und wir stehen jetzt da mit unserer Tugend! Schön blöd! Die Liebe ist, wie Paartherapeut Klaus Heer sagt, monogam. Nur der Mensch ist es nicht. Auf jeden Fall nicht immer.
Wie schwer das mit der Treue ist, stellte ich am eigenen Leib fest, als mich eines Tages, kurz vor Weihnachten, die Liebe auf den ersten Blick traf. Ein kleiner Moment, ein genaueres Hinsehen, ein leichtes Streicheln, und es war um mich geschehen! Ich erzählte meinem Mann davon, und er reagierte ausgesprochen verständnisvoll. So wie ich schwärmte, war ihm klar, dass ich diese Handtasche unbedingt haben musste. Sie war teuer, sehr teuer. Nicht so von der Art, die man sich spontan mal selbst kauft, und bald gab es sichere Anhaltspunkte dafür, dass ich sie im Januar als Geburtstagsgeschenk bekommen würde. (Ich sah die Abbuchung schon auf den Kontoauszügen.) Kurz vor meinem Geburtstag streifte ich leichtsinnigerweise durch die Handtaschenabteilung von Galeries Lafayette in Berlin. Ein Paradies mit Gelegenheiten noch und nöcher. Wie gerne hätte ich jetzt lieber den leuchtend orangefarbenen Saffiano-Shopper von Joop gehabt. Oder hier die Vintage-Clutch von Liebeskind. Ich wurde meiner großen Liebe, die zuhause auf mich wartete, im Geiste schon untreu, noch bevor ich sie in Händen hielt, und dachte irgendwie spontan an Wörni. Was war er doch für ein weiser Mann. Zum Geburtstag bekam ich dann erwartungsgemäß die tolle Tasche, die für einen Moment meine große Liebe gewesen war, bis… Naja, Sie wissen schon. Und wissen Sie, was dann passierte: Sie war ja immer noch schön, ich hatte sie mir ja gewünscht, und eigentlich konkurrierte sie ja ohnehin schon mit zahllosen anderen Stücken aus meinem Handtaschen-Harem. Ich nutzte sie gerne und nutze sie immer noch. Sie passt zu mir. Sie ist lässig und doch auffällig. Häufig werde ich gefragt, woher ich diese tolle Tasche habe, und dann sage ich stolz: „Von meinem Mann!“ Und wer braucht schon einen orangefarbenen Shopper oder eine Vintage-Clutch? Also ich nicht, zumindest nicht im Moment.
Treue unter Menschen im Allgemeinen und unter Paaren im Besonderen wird in der Literatur (sprich im Internet) sehr unterschiedlich bewertet. Alle wollen sie, nur 50% der Paare gelingt sie. Nicht immer ist Untreue das Ende, im Gegenteil, manchmal ist sie ja auch der Anfang, wie man weiß… Die einen Experten betrachten lebenslange Treue als unmöglich, es sei denn, man sei mit einem ausgeprägten Hang zur Selbstkasteiung ausgestattet. Die anderen Spezialisten sind der Meinung, dass es lebenslange Liebe nicht ohne Treue geben könne. Ein spannendes Thema sicherlich, zu dem sicher jede und jeder noch etwas zu sagen hätte.
Bleiben wir also lieber bei der Handtaschengeschichte. Die nimmt Untreue nicht ganz so übel. Und falls ich jemals Wörni wiedersehe, dann werde ich ihm diese Kolumne schenken. Schließlich bin ich eine echt treue Seele…