Tatsächlich….Weihnachten!
Jedes Jahr um die Weihnachtszeit gibt es einen Abend, da sitze ich auf der Couch vor meinem Glas Rotwein und heule Rotz und Wasser. Ich weine mit meinem Freund Daniel, der gerade seine Frau verloren hat und – begleitet von Musik der Bay City Rollers – von ihr Abschied nimmt und nun mit seinem blonden, treuherzigen Stiefsohn irgendwie weiterleben muss, der seinerseits unglücklich in die Schulschönheit verliebt ist. Ich verzweifle mit Karen, als sie feststellt, dass die Kette, die sie kurz zuvor im Jackett ihres Mannes gefunden hat, nicht ihr Weihnachtsgeschenk war, und kann mich – wie sie – kaum zusammenreißen, dass die Familie nichts von ihren Tränen mitbekommt. Dazu singt Joni Mitchell und alle Dämme brechen. Ich fiebere mit Jamie, der am Weihnachtsabend in Marseille, begleitet von dramatischer Orchestermusik und der halben Stadt, um die Hand seiner Liebsten Aurelia anhält. Ich tanze mit dem Prime Minister zu „Jump“ durch Downing Street No 10, und schäme mich fremd, wenn der abgehalfterte Sänger Billy Mack splitterfasernackig Gitarre spielt.
Haben Sie auch so Weihnachtsbeziehungen, ohne die Sie an den Feiertagen nicht über die Runden kommen? Als wir klein waren, liefen unter dem Motto „Warten aufs Christkind“ immer die tollsten Sachen auf den beiden verfügbaren Programmen, die uns ablenken sollten vom geheimnisvollen Treiben bis zur Bescherung. Einmal kam meine Mutter zu uns ins Wohnzimmer. Es war mucksmäuschenstill und wir hatten hochrote Ohren, was daran lag, dass sie bei „Maxifant und Minifant“ eine echte Geburt zeigten. Das war meiner Mutter damals in den 70ern doch too much Ablenkung, auch wenn so eine Geburt natürlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Weihnachtsabend steht. Dann doch lieber wieder sowas Unvergängliches wie die schönen Geschichten aus Lönneberga. Noch heute schießen mir vor Rührung die Tränen in die Augen bei der Erinnerung daran, wie jede Weihnachten der kleine Michel den verletzten Knecht Alfred durch den Schneesturm nach Mariannelund zum Arzt bringt und ihn damit vor dem sicheren Tod bewahrt. Und wie stolz seine Mutter dann doch auf ihn war! Aaah… Dann war da noch das Aschenbrödel, das auch in diesem Jahr wieder sage und schreibe zwölfmal seine drei Nüsse knacken muss, um die passende Kleidung darin zu finden, mit der es den Prinzen erobern kann. Ach, wenn’s doch nur so einfach wäre. Apropos Prinz – ich sage nur: „Ach Sissi“ – „Ach Franzl“.
Angesichts dieser und anderer Schmachtfetzen wie „Der kleine Lord“, „Ist das Leben nicht schön?“ oder das „Wunder von Manhattan“ darf man sich schon fragen, warum – zumindest aus filmischer Sicht – an Weihnachten mehr geweint werden soll als an anderen Tagen. Und geweint werden will, schließlich schauen wir ja das ganze klebrige Zeug freiwillig an.
Waisenkinder finden neue Familien, Scheidungskinder bringen ihre Eltern wieder zusammen, mehrfach werden auch hartherzige Karrierefrauen endlich geläutert – kein Weihnachtswunder ist zu klein, schon gar nicht für Hollywood! Neben diesen Tränendrüsendrückern – natürlich mit Happy-End-Garantie – gibt es zahllose Klassiker, der bekannteste natürlich: Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte, tausend Mal verfilmt, nicht zuletzt mit den Muppets. Überhaupt gibt es viele Trickfilme, animierte Filme, Filme mit sprechenden Tieren – vorzugsweise Elche. Besonders die amerikanische Filmindustrie hat sich auf Weihnachtsschwarten aller Art spezialisiert: Wir lernen Weihnachtselfen kennen, von denen wir in unserem Kulturkreis bisher nichts wussten, entdecken Santa Clause und den Grinch, den Weihnachtshasser, der eigentlich der beste Weihnachtsmann von allen ist. Wir reisen mit dem Polar-Express an den Nordpol oder mit einer Zeitmaschine auch gerne mal an die Front, wo vor über hundert Jahren am Weihnachtsabend die Waffen schwiegen. Apropos Front. Für Männer ist das ja alles nix, das zuckrige Zeug, wie wir aus sorgfältigen Studien am lebenden Objekt wissen. Für sie hat aber glücklicherweise Bruce Willis Abhilfe geschaffen: Er hat „Stirb langsam“ zum Weihnachtsklassiker mit Testosteron-statt-Zucker-Overkill erkoren und befreit als einsamer Polizist John McClane am Heiligen Abend ganz Los Angeles vom Bösen (übrigens in Gestalt eines deutschen Gangsters). Anstatt einer großartigen Geburt, gibt es hier unzählige Todesfälle, John McClane allerdings überlebt, schließlich musste er anschließend noch in vier Fortsetzungen ran, von denen zumindest die erste auch noch für einen Weihnachtsactionfilm gut war. Egal, ob „Tödliche Weihnachten“, „Nightmare before Chrismas“ oder „Bad Santa“ – der geneigte männliche Zuschauer kommt hier auf seine Kosten, auch wenn die Romantikfraktion am anderen Ende der Couch lieber etwas anderes gesehen hätte.
„Tatsächlich Liebe“, zum Beispiel. Wissen Sie, da wo am Ende, wenn ich beseelt beim dritten Rotwein sitze, jedes Jahr wieder alles gut wird: Der Witwer trifft auf Claudia Schiffer (in echt jetzt), der abtrünnige Ehemann sieht seine Dummheit ein, und der Prime Minister steht zu seiner etwas moppeligen Ex-Sekretärin. Mehr Weihnachtswunder geht nicht!