Sylter Feelings
Im Urlaub will man ja für gewöhnlich alles hinter sich lassen, sich neuen Eindrücken öffnen, Unbekanntes entdecken, ausschlafen und sich einfach nur erholen. Stellt sich natürlich die Frage, warum man seine Familie mitnimmt, seinen Laptop, seine ungelesenen Zeitschriften, mitunter den Hund und das angefangene Strickzeug. Und warum man sich vor Ort das eine oder andere an Lese- und Strickstoff noch dazu kauft… Umso überraschender, wenn es dennoch gelingt, abzuschalten. Ich hatte in diesem Urlaub das Glück, dass in dem Fernseher im Schlafzimmer unserer Ferienwohnung nur dänische Sender reinkamen und ich auf diese Weise nicht nur die Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin, die Ernennung ihrer Nachfolgerin als Verteidigungsministerin und Boris Johnsons Start als Premier in England so gut wie verpasst habe, sondern auch den Schweinefleischskandal an einer deutschen Kita. Letzteres zog wirklich vollständig an mir vorbei und im Nachhinein, nachdem ich von dem Nachrichtenportal „Postillon“ ausführlich darüber informiert wurde, frage ich mich natürlich, wie es sich kulturell und identitätsmäßig auf mich auswirken wird, dass ich zehn Tage eigentlich nur Fisch gegessen habe. Und das als Oberhessin auf der teuersten Insel Deutschlands. Fange ich jetzt vielleicht an, Norddeutsch zu reden oder könnte ich am Ende sogar vornehm werden?
Gut möglich wäre es ja schon, denn ich beschließe eigentlich nach jedem Urlaub, mein Leben radikal zu ändern. Nicht dass ich mich gleich von meiner Familie trennen oder umziehen möchte, aber im Urlaub erscheint es mir stets realistisch, auch zuhause ausgeruht nach einem Frühstück mit frischem Obstsalat in den Tag zu starten, nachdem man die kühlen Morgenstunden vielleicht für einen Spaziergang oder eine Runde Pilates genutzt hat. Mir erscheint es dann durchaus machbar, mich im Lauf des Tages einmal an einem der gemütlichen Plätzchen in Haus oder Hof niederzulassen und Zeitung oder ein Buch zu lesen – selbst dann, wenn der Alltag wieder eingekehrt ist. Nicht dass jetzt der Eindruck entsteht, dass ich zu übermäßiger Fantasie neige. Ich würde zum Beispiel auch auf Sylt nicht dazu tendieren, für meine Töchter ab fünf Jahren einen Schminkkurs mit Ernährungsberatung zu buchen, und das nicht nur deshalb nicht, weil ich keine Töchter habe. Ich würde auch nicht in Versuchung geraten, für unseren Hund ein Luxuskörbchen für 698 Euro oder ein etwa genauso teures orthopädisches Hundekissen zu kaufen. Also, das nun wirklich nicht, obwohl natürlich die schönen Auslagen in den Boutiquen in List oder in der Westerländer Strandstraße oder die Immobilienangebote in den Fenstern der Maklerbüros…
Dass sich zwischen dieses ganze Fischessen auch nicht einmal die Rantumer Currywurst De Lüx eingeschlichen hat, ist übrigens einer Begegnung in Westerland zu verdanken. Dort trafen wir – zufällig – einen Verwandten aus meiner Heubacher Heimat, der uns vehement davon abriet. Wenige Tage zuvor hatten wir schon einen Bekannten aus Alsfeld getroffen, und ich fragte mich, wenn wir jetzt hier Leute aus meiner alten und aus meiner neuen Heimat treffen, und das auch noch innerhalb dieser gerade mal zehn Tage, und wenn das jedem so geht, wie viele Menschen halten sich dann wohl auf der Insel auf, deren eigentliche Einwohnerzahl mit knapp 18.000 nur minimal über der von Alsfeld liegt, und will man dann dort eigentlich Tourist sein, wenn man sich vorstellen kann, wie sehr diese Invasion, deren Teil man ja selbst ist, die Ureinwohner vielleicht nervt? Andererseits ist der Tourismus wie in allen Hochburgen ja Fluch und Segen gleichzeitig, denn was sollte Sylt schon anders produzieren als gutgemachten Tourismus. Bei der Ausgangslage?
Ich versuche dann ja immer einen auf einheimisch zu machen und betrete maximal gechillt und im Fall von Sylt mit lässiger, maritimer Nonchalance die kleinen Läden mit einem echt friesischen „Moiiiin“ auf den Lippen. Ich schaue mir die Looks der Sylterinnen ab (oder der derjenigen, die erfolgreich so tun, als wären sie welche), und wäre ich nicht permanent in einem Auto mit VB-Nummernschild unterwegs gewesen, wäre ich bestimmt, also ganz bestimmt, als Einheimische durchgegangen, schon allein wegen meiner silbern glänzenden Gym Bag, früher Turnbeutel genannt, die hier jeder dritten Frau am Rücken hing. Wenn das nur mal nicht auch Touristinnen waren… Aber selbst diesen unterstellt man ja so als Dorfkind auf dieser Insel zumindest Reichtum und Vornehmheit, alles erstrebenswerte Dinge, mit denen ich wenig bis gar nicht gesegnet bin.
Und so machte ich dann doch das am liebsten, was Touristen und wahrscheinlich auch die Einheimischen am Meer so mögen. Rausschauen. Den Kopf freiblasen lassen. Den Wellen beim Kommen und Gehen zusehen. Über das Leben philosophieren. Die Erkenntnis setzen lassen, dass FKK wohl nur noch in der Generation Ü70 als ein Relikt bewegter, doch vergangener Zeiten beliebt ist und sich somit in den vermutlich nächsten 30 Jahren erledigt haben wird. Und was einem sonst noch so einfällt, wenn sich nach Tagen der Erholung eine völlige Gehirnleere eingestellt hat und das Überleben nur noch durch Reflexe wie Atmen und Shoppen sichergestellt ist. Wenn der Laptop in der Ecke starke Abwehrgefühle auslöst, aber die köstliche Basilikum-Ingwer-Limo Glücksgefühle verheißt. Wenn du dich auf einen Backfisch im muschelförmigen Brötchen freust und versuchst, auf dem Feuerwehrfest in Kampen doch noch einen Promi ausfindig zu machen. War das da mit den komischen Hosen und den Stiefeln nicht sogar Wolfgang Joop? Oder ist der schon tot? Nee, das war Karl Lagerfeld, also der Tote… Gehirnleere, ich sag’s ja.