Sweet Sixty

In diesem Jahr feiern so viele Menschen ihren 60. Geburtstag wie noch nie zuvor. Kein Wunder, dass man in unserem Alter von einer Party zur anderen rennen muss, manchmal sogar im eigenen Haus. Umso schöner, wenn eine Party sozusagen weltweit stattfindet und man sie jeden Morgen mit sich selbst feiern kann.
Ich sage nur: Nutella!

Nutella ist 60 geworden und jeder, der weiß, dass ich bei uns zu Hause nicht nur die einzige, sondern auch die leidenschaftlichste Nutella-Esserin bin, kann erahnen, wie froh ich bin, dass kurz vor meiner Geburt jemand das Nutella erfunden hat. Und dass mein Vater die Weitsicht hatte, es in das Sortiment unseres kleinen Edeka-Ladens aufzunehmen, was in einem verschlafenen kleinen hessischen Dorf an der bayrischen Grenze keine Selbstverständlichkeit war. Ich weiß nicht, wie ich ohne Nutella hätte aufwachsen sollen. Und damit wären wir schon bei der ersten großen Frage zu der sagenhaften Nuss-Nougat-Creme angekommen: Heißt es eigentlich die Nutella oder das Nutella? Der Duden lässt uns die freie Wahl und verweist ganz sachlich darauf, dass „das Genus für den Marken- bzw. Produktnamen nicht festgelegt ist. Häufig werde die weibliche Form die Nutella verwendet, wohl abgeleitet von der aus dem Italienischen stammenden femininen Endung -ella. Es trete aber auch die sächliche Form das Nutella auf. Die Rechtschreibkontrolle ist sich mit mir einig, dass es das Nutella heißen muss, aber ich glaube, dass man sich darüber nicht streiten muss: Das Nutella ist natürlich richtig.

Die zweite große Frage, die sich offenbar stellt – was mir bis vor kurzem, als ich in einer Lesung über meine Liebe zu meinem morgendlichen Nutella-Brötchen sprach, völlig neu war -, ist die nach mit Butter oder ohne. Ganz ehrlich: Nie im Leben würde ich darauf kommen, Nutella ohne Butter zu essen. Was für eine bescheuerte Idee, oder? Ähnlich verstörend fand ich früher, als ich noch in Heubach wohnte, die Frage, ob im Brot Kümmel sei, die mir manchmal Gäste im Landgasthof stellten, in dem ich kellnern durfte. Ja, klar, dachte ich, ist ja auch Mehl drin. Inzwischen hat sich mein kultureller Horizont insofern geweitet, als dass ich weiß, dass es Menschen gibt, die kein Kümmelbrot essen, aber auch ihnen sei gesagt: Es gibt nichts Besseres als eine Scheibe frisches Bauernbrot mit Kümmel, Butter und Nutella.

Nutella ist ja nicht nur ein Brotaufstrich, wenn man mal ehrlich ist. Es ist Erinnerung und Gefühl. Wer wie ich damit aufgewachsen ist, schmeckt mit jedem Bissen wohlige Geborgenheit am elterlichen Küchentisch (natürlich mit Eckbank) und erinnert sich an den Hinweis des Vaters, dass man sich doch nochmal übers Gesicht wischen müsse, bevor man gehe, weil die braune Köstlichkeit mitunter bis zu den Ohren verschmiert war. Ich erinnere mich an diesen Geruch von zerbröseltem Nutella-Brot, der sich in der Brotdose mit weicher Banane mischte. Da das von der Konsistenz her am Ende alles etwas fragwürdig war, habe ich diese Konstellation nie reproduziert, aber ich würde den Duft aus Millionen anderen erkennen. Und ich erinnere mich an die kleinen Gimmicks, die immer im Deckel des Nutella-Glases versteckt waren. Einmal gab es so ein Dreierset mit Schablonen. Die musste man auf bestimmte Art und Weise anordnen, um Asterix-Figuren zu zeichnen. Es gab verschiedene Aufkleberserien und eine ganze Generation Fußballspieler ging als „Nutella-Boys“ in die Geschichte ein. Das allerdings muss in einer meiner Nutella-freien Phase gewesen sein.

Nutella ist ein Mythos: Man kann im Internet alles dazu googeln. Nutella hat natürlich eine eigene Website, auf der die Legende gepflegt wird und man von den Anfängen über den Aufstieg und den Siegeszug in die Welt alles erfahren kann. Völlig objektiv natürlich. Es gibt Seiten mit Nutella-Rezepten, Nutella-Gadgets und Nutella-Anekdoten. Ratschläge, wie man die das Glas samt Folie richtig öffnet (als Film!), dabei ist es doch mit das Schönste, wenn schon beim Abreißen der Folie ein bisschen von der leckeren Creme an den Fingern hängen bleibt, oder? Es gibt die besten Nutella-Stories, und auf einer Website wird sogar eine Nutella-Maske vorgeschlagen, also zur Gesichtspflege. Wem’s gefällt. Es gab eine Räuberbande, die in Niederaula einen Anhänger mit 2500 Gläsern Nutella gestohlen hat, und daher „Nutella-Bande“ hieß. Zur Info: Obwohl es hier in der Nähe war, war ich nicht dabei. Eine gleichnamige Bande trieb in Hamburg als Zuhälter ihr Unwesen. Ihren Namen verdankte sie wohl einem anderen, wenn auch ähnlich lautenden Wort. Und es gab eine Band namens Nutella, an die speziell in unseren Alsfelder Kreisen die eine oder der andere wehmütig zurückdenken wird.

Zum Schluss meiner Betrachtungen wird es allerdings noch ein kleines bisschen traurig: Jahrzehntelang war ich der Überzeugung, dass kein, aber auch gar kein Ersatzprodukt an Nutella heranreicht. Kein Nudossi, kein Syltella, nix. Mir war der ökologische Fußabdruck genauso egal wie die Verwendung von Palmöl. So ist das mit der Liebe. Und dann kam das Neue: die Nuss-Nougat-Creme von Alnatura. Seit ich sie das erste Mal probierte, steht das Reserve-Glas Nutella im Schrank. Manchmal blicke ich es mit schlechtem Gewissen an und ich denke, es blickt zu mir zurück und wartet, bis ich es wieder auf den Tisch stelle. Zu den Brötchen oder dem Kümmelbrot. Wie gesagt: So ist das mit der Liebe.