Stöpselkinder
Wenn man sich so umschaut und dabei – was angesichts des demografischen Wandels wohl immer seltener wird – auf Menschen unter 25 blickt, sieht man seit Jahren ein sich immer weiter ausbreitendes Phänomen. In den Ohren der Menschen dieser Altersgruppe stecken kleine Stöpsel, die an dünnen Kabelchen festgemacht sind, die wiederum unauffällig unter der Jacke, in der Hosentasche oder im Schulranzen verschwinden. Dort stecken sie meist in einem mobilen Endgerät. Und von dort aus kriegen die Nutzer desselben offenbar permanent was auf die Ohren. Keine Ahnung, was. Ich – menschgewordenes Relikt aus der Generation Walkman – würde auf Musik tippen, aber ich denke, es sind noch andere Dinge: Tutorials vielleicht, kleine Filmchen, Sprachnachrichten, was auch immer. Man gewinnt leicht den Eindruck, dass die jungen Leute heutzutage nirgends mehr ohne ihre Stöpsel hingehen. Und wenn ich schreibe, nirgends, dann meine ich auch nirgends.
Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sich das auswirkt, wenn man unaufhörlich beschallt wird! Bleibt zu hoffen, dass die plug kids, wie sie im Fachjargon seit eben dieser Veröffentlichung heißen, wenigstens während der Schulstunden, der Vorlesung und am Arbeitsplatz mal kurz off sind, aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Stöpselkinder sitzen beim Frühstück mit den Stöpseln im Ohr, manchmal lachen sie dann laut vor sich hin, und keiner außer ihnen weiß warum. Manchmal wackeln sie mit dem Kopf zu für Außenstehende unhörbarer Musik. Sie selbst hören natürlich nicht, wenn man sie fragt, ob sie für die Schule klar sind, allerdings antworten sie laut und deutlich, auf die Frage, ob sie heute vielleicht Geld für einen Pausendöner brauchen. Die wunderbare Welt des selektiven Hörens. Stöpselkinder tragen ihre Stöpsel auf dem Weg zur Schule, auf dem Fahrrad oder zu Fuß. Das Verkehrstreiben findet von ihnen ungehört statt, und es ist ein Wunder, dass nicht täglich mindestens eins von ihnen überfahren wird. Zuhause legen Stöpselkinder ihre Stöpsel während des Essens nur unter Androhung schwerster Entzugsmaßnahmen für einen Moment beiseite oder um sie vor dem PC durch ein fettes Headset zu ersetzen, mit dessen Hilfe sie im Teamspeak um die ganze Welt chatten. Ist das eigentlich normal? Und geht das wieder weg?
Hin und wieder gerate ich beim Anblick verstöpselter Kinder an die Grenzen meiner Toleranz – besonders, wenn sie sich in meinem Haushalt aufhalten. Dabei war ich doch selbst eines dieser Stöpselkinder. Vor vierzig Jahren!
Stöpselkinder in den Siebzigerjahren, liebe Leserinnen und Leser unter zwanzig, waren so arme Kinder wie ich, die samstags, als der Badeofen einmal in der Woche das Badewasser auf Wohlfühltemperatur gebracht hatte, gemeinsam mit ihrer Schwester baden mussten. Und da ich die Jüngere war, musste ich auf dem Stöpsel sitzen. Einige mögen sich erinnern, dass die Stöpsel damals längst nicht so komfortabel waren wie heute. Sie waren aus Gummi und an einer Öse war eine Kette befestigt, die wiederum kurz unter dem Badewannenrand festgemacht war. Saß man also auf dem Stöpsel, drückte sich die Öse in den Po, wollte man sich hinten anlehnen, um es sich bequem zu machen, hatte man die Kette im Rücken. Wollte man mit der großen Schwester den Platz tauschen, erntete man ein müdes Lächeln.
Lange Zeit habe ich mit niemandem über mein Schicksal als Stöpselkind gesprochen. Bis irgendwann einmal meine Freundin Roswitha davon anfing. Ihr war es ähnlich ergangen. Und wissen Sie, was? Ich glaube, dass wir viele sind! Und das viele von uns gar nicht wissen, in was für einer großen Community sie sich befinden. Vielleicht sollte ich mal eine Stöpselkinder-Facebook-Gruppe gründen, damit endlich alle derart Traumatisierten ein Forum haben. Mein Bruder würde dann wahrscheinlich eine Gruppe für Jungs gründen, die zwar alleine, dafür aber im benutzten Wasser ihrer Schwestern baden mussten. Es waren harte Zeiten, die Siebziger!
Aber – ich denke, das kann ich mit der gebotenen Subjektivität durchaus sagen – wir haben keine bleibende Schäden zurückbehalten, was für die heutigen plug kids erst noch zu beweisen wäre!