Schuhstandsmeldungen

Über den Zustand unserer Wohnung im Allgemeinen und die Ansammlung von Schuhen neben der Haustür im Besonderen habe ich, sofern ich mich recht erinnere, schon des Öfteren geschrieben. Die Schuhstände scheinen sehr inspirierend zu sein, wenngleich meine Abhandlungen darüber bisher doch eher despektierlich waren. Völlig zu Unrecht, wie mir bei genauerer Betrachtung und nach intensiven Gesprächen mit anderen Schuhstandsforscherinnen jetzt klar wurde. Denn so eine Schuhansammlung neben der Tür ist viel mehr als ein Ausdruck von Unordnung, im Gegenteil: Sie schafft Klarheit über viele Dinge, beruhigt, ist heimelig, bietet Identifikationsmöglichkeiten – kurzum: Kein gutes Leben, keine gelingende Kommunikation ohne regelmäßige Schuhstandsmeldungen.

Als beispielsweise unser großer Sohn anfing, abends länger auszubleiben als wir aufblieben, dann fiel morgens mein erster Blick auf den Schuhhaufen neben der Tür. Standen seine großen ausgelatschten Treter mit dabei, war ich beruhigt – mein Sohn war nachhause gekommen. Standen sie nicht da, rannte ich panisch in sein Zimmer, nur um festzustellen, dass er dort – zu dieser Zeit glücklicherweise noch allein – im tiefsten Schlummer lag und seine Schuhe dort ausgezogen hatte. Ich bat ihn darum, doch die familiäre Ordnung einzuhalten und nicht grundlos unsere Informationswege zu blockieren. Da er nicht wirklich wollte, dass ich permanent mit schreckgeweihten Augen vor seinem Bett stand, besann er sich zurück auf die bewährten Familientraditionen und zog seine Schuhe an der Haustür aus. Auch wenn Freunde bei ihm übernachteten, was oft vorkam, konnten wir nach dem Aufstehen immer schon an der Tür sehen, wie viele hoffnungsvolle junge Erwachsene jedweden Geschlechts sich in unsrem Jungstrakt tummelten – Anhaltspunkte sowohl über die aktuelle Schuhmode als auch über die benötigte Menge an Frühstücksbrötchen lieferten die Schuhstände gleich mit.

Über die Bedeutung dieser Schuhstandsmeldungen wurde ich mir zum ersten Mal vor sicher 15 Jahren klar. Unsere Freunde hatten damals schon zwei Töchter, die so langsam nach den Jungs schauten – und umgekehrt. „Da will ich morgens aus dem Haus und sehe zwei Riesen-Waldbrandaustreter neben der Haustür stehen“, berichtete unser Freund damals. Diese Nachricht bedeutete irgendwie auch das Ende der Kindheit seiner Tochter – unglaublich, welche emotionale Wucht sich doch in einem simplen Schuhhaufen manifestiert.

Als sich bei uns die Schuhstandsmeldungen änderten, dauerte es eine Weile, bis wir es begriffen. Denn eines Morgens, als am Abend vorher für einen Übernachtungsgast im Jungszimmer gerüstet worden war, standen statt der zu erwartenden Boots in Größe 48 buntgeblümte Stiefelchen in Größe 38 neben der Tür. „Wenn mit Michael und seinen Füßen nichts Gravierendes passiert ist, hat heute jemand anders hier geschlafen“, schloss ich daraus messerscharf und warf meinem Mann wissende Blicke zu. Als irgendwann nur noch die geblümten Stiefel dastanden, war das ja auch irgendwie eine klare Ansage und ich hoffte insgeheim, nicht direkt Großmutter zu werden – und das nur wegen der Schuhe! In bester Tradition riet unser Sohn dann auch der Besitzerin der bunten Stiefel, ihre Schuhe dem Info-Pool beizustellen: „Dann wissen sie, dass du da bist und klopfen an, bevor sie reinkommen.“ Schlaues Kind.

Meine Freundin, Mutter zweier Jungs im paarungswilligen Alter, erzählte mir kürzlich davon, wie sie und ihr Mann rätselten, wer von den beiden Sprösslingen wohl für die Mädchenschuhe verantwortlich sei, die sie morgens bei den Schuhstandsmeldungen vorfanden. Der eine war eigentlich noch ein wenig zu jung, der andere ein wenig zu schüchtern. Es wurden Wetten abgeschlossen, aus wessen Zimmer die Schuhbesitzerin wohl käme – unnötig zu sagen, dass die mütterliche Meinung gewann. Zusätzlich zu allen haushaltlichen Kompetenzen, die uns ja dem Vernehmen nach im Lauf unseres Lebens einfach so zufliegen, sind wir auch hochqualifizierte, weil hochsensible Schuhstandsanalytikerinnen. Mit nur einem Blick nehmen wir nicht nur wahr, wer da ist, sondern auch, was diejenige Person vielleicht für ein Fußproblem hat oder wo sie mit ihren Schuhen die letzten zehn Male unterwegs war – ähnlich den Geistesblitzen, die in den neuen Sherlock-Holmes-Filmen so wunderbar visualisiert werden. Am Ende sind wir natürlich auch im Stand qualifizierte Charakterstudien anhand der Schuhe zu treffen: Spießer oder Rebellin? Bequeme Chaotin oder Mode-Freak? Schuhpfleger oder Schuhschänderin?

Bleibt ein Blick auf meine eigene Beteiligung an den Schuhstandsmeldungen. Schwierig, würde ich sagen, denn ich mache Schuhhaufen überall auf – eine kreative Seele wie ich kann sich einfach nicht auf einen festgelegten Platz beschränken. Ich trage meine Straßenschuhe auch im Haus so lange ich will und ziehe sie aus wo immer es mir passt. Ich bin sozusagen mein eigener Schuhinformationskosmos und als solcher durchaus unberechenbar. Ob ich da bin oder nicht, das hören meine Mitbewohner ohnehin am Klackern der Computertastatur oder sie riechen es, wenn das Essen zubereitet wird. Viel mehr als Letzteres müssen sie auch gar nicht von mir wissen – finden sie jedenfalls.

Allein wenn meine Schuhe geputzt werden müssen, stelle ich sie dem offiziellen Schuhhaufen bei. Dann weiß mein Mann, was er zu tun hat. Der Schuhzustand sagt es ihm. Auch ohne hochsensible Analysekompetenz.