Rushing Woman
„Dich sieht man ja den ganzen Tag immer nur umherfahren.“ Das sagte letztens ein Bekannter zu mir, den ich traf, als ich endlich wieder einmal halbgechillt und zwischen zwei Terminen mit dem Hund unterwegs war.
Als er mir das sagte, fiel mir direkt Schmidts Elfriede ein, eine Frau aus meinem Heimatdorf, die als eine der wenigen Frauen in der Generation meiner Eltern den Führerschein hatte. Sie hatte acht Kinder und fuhr ständig in der Gegend herum. Heubach war klein, wir wohnten an der Hauptstraße und Schmidts Elfriede (die von allen Heubachern sicher auch trotz dieses originellen Pseudonyms und leichter Abwandlung der Kinderzahl erkannt werden wird) fuhr sicher zwanzigmal am Tag hoch und runter, hin und her. Ganz Heubach unterstellte ihr dabei unnötige Absichten, wie beispielsweise die Wäsche ihrer großen Familie zu ihrer Mutter zum Bügeln zu fahren oder außerorts einzukaufen. „In der Zeit hätte sie das auch selbst gebügelt“, hieß es und „Autofahrende Frauen sind schuld, dass die kleinen Läden in den Dörfern schließen müssen.“ Elfriede fuhr und fuhr, dabei war zu dieser Zeit das Mamataxi noch nicht einmal erfunden….
Als der Bekannte das zu mir sagte, fühlte ich mich – ganz Frau eben – furchtbar ertappt, so als ob ich etwas Falsches täte, nicht zuletzt wegen der Umwelt. Vor meinem geistigen Auge lief so ein kleiner Film, in dem ich – in den unterschiedlichen Autos unseres familiären Fuhrparks sitzend – andauernd hin- und herfuhr. „Wuschsch“, machte es in die eine Richtung, „wuschsch“ in die andere und wieder „wuschsch“ in noch eine andere oder zurück. Traudi on Tour. Innerlich begab ich mich direkt in den Verteidigungsmodus. Es war ein guter Zeitpunkt, ein Selbstgespräch mit mir zu führen über die Notwendigkeit meiner vielen, vielen tagtäglichen Fahrten. Da müssen Kinder von der Logopädie in die Schule gefahren werden, da muss ich selbst zur Osteopathie, da muss ich zur Arbeit und zwischendurch zu einem Pressetermin außer Haus. Mit viel Glück hat mittags zuhause jemand gekocht, da kann ich schnell was essen fahren, wenn nicht, sollte ich, bevor ich von der Arbeit nachhause fahre oder von einem Termin zum anderen, noch was zum Kochen einkaufen. Vielleicht noch vorm Tanken, keinesfalls aber nach dem Aquacycling, denn sonst wird das mit dem Kochen zu spät. Also am besten zwischen Job und Vereinsschwimmen, aber vor der Musikschule, auf jeden Fall so, dass man zwischenzeitlich zuhause signalisieren kann, ja, ich habe es auf dem Schirm, es gibt noch was, aber ich muss vorher noch dieses Schuhpaket zurückbringen und endlich mal das Hemd aus der Reinigung holen. Falls jemand noch einen Job für mich hat, dann bitte her damit. Ich bin gerade so schön in Fahrt und auf der Fahrt. Da geht noch was! Stellt sich natürlich die Frage, ob ich noch Reserven hätte, um meine Fahrten vielleicht doch ökologisch korrekt mit dem Fahrrad zu machen, wenn ich mich etwas besser organisieren würde?
Als ich so drüber nachdachte, was man sich als Frau so alles in den Tag packt, seit die Spülmaschine, die Waschmaschine und die bügelfreie Wäsche erfunden wurden und Frauen Führerschein machen dürfen, frage ich mich, ob diese Erleichterungen tatsächlich nur dazu dienen sollten, dass wir uns ein paar andere Sachen aufhalsen – und davon viele. Wenn man sich so umschaut, könnten man diesen Eindruck haben. Und offenbar geht es nicht nur mir alleine so.
Wir packen tausend Sachen in unsere Tage, entwickeln Tricks, um Nudeln schneller zu kochen und uns während des Toilettengangs die Fingernägel zu lackieren, also um möglichst viele Dinge parallel zu tun, was bei genauem Hinsehen gar nicht möglich ist und meist nicht zum Erfolg führt. Eher zum Gegenteil und zu einem gewissen Mehraufwand, wie eine verhunzte Maniküre beispielhaft zeigt. Gleichzeitig wundern wir uns, dass wir immer mehr vergessen, beispielsweise, wenn wir irgendwo hinlaufen, um etwas zu holen, und in der Zwischenzeit, auf dem Weg also, so viele andere Dinge erledigen, dass wir den eigentlichen Zweck unseres Weges schon wieder vergessen haben, bis wir zurückkommen und das, was wir ursprünglich holen wollten, uns immer noch fehlt.
Jetzt bin ich vom „Ich“ ins „Wir“ gehüpft, zu Recht, denke ich, denn warum sonst sollte es für dieses Phänomen sogar ein Fachwort geben, das in der einschlägigen Presse diskutiert wird? Es heißt: „Rushing Women Syndrom“ und betrifft Frauen weltweit, sofern sie Opfer von Emanzipation in Kombination mit technischem und digitalem Fortschritt geworden sind und sich unter genau diesen Vorzeichen in ein Hamsterrad begeben haben, aus dem sie nur schwer wieder herauskommen. Auf einer einschlägigen Website habe ich einen Test gefunden, der Auskunft darüber gibt, wie sehr man in Gefahr ist, eine Rushing Woman zu werden oder ob man am Ende schon eine ist. Über vierzig Kriterien standen zur Auswahl und schon bei mehr als sechs angekreuzten, wurde man im Club der Rushing Women begrüßt. Also sieben von vierzig, das ist ja so gut wie nichts! Und dann auch noch bei so Aussagen wie „Liebt Kaffee und hat das Gefühl, dass etwas fehlt, wenn es keinen gibt“ oder „Kann schlecht Nein sagen“, oder „Hat nachmittags Heißhunger auf Zucker“ oder „Hat ständig ein schlechtes Gewissen“ oder „Hat den Eindruck, dass der Tag immer zu wenig Stunden hat“ oder „Schläft zu wenig“ oder „Kann schwer um Hilfe bitten“.
Sie finden diese Angaben auch ganz normal? Dankeschön und willkommen im Club! Unnötig zu sagen, dass „Rushing Women“ extrem anfällig sind, u.a. für Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Schlafstörungen und Hormonschwankungen. Also, falls Sie es sich auf dem nächsten Weg, gewissermaßen en passant, einrichten können, besorgen Sie sich schnell einschlägige Literatur zu dem Thema, um Abhilfe zu schaffen – aber machen Sie schnell, sonst schaffen Sie den Rest des Tages nicht!
Bild: © Tweetyspics / Pixabay
Test: https://www.thieme.de/de/gesundheit/selbsttest-sind-sie-eine-rushing-woman-113371.htm