Reisehunger

Wenn ich reisehungrig bin, dann wünsche ich mir ein Leberkäsebrötchen, ein Wasser, ein Schokocroissant und einen Kaffee.
Und Sie?

Ich weiß nicht, woran das liegt, aber Reisen macht hungrig. Mich zumindest. Und durstig offenbar auch. Während ich so im ICE von Berlin nach Fulda sitze, läuft am helllichten Tag ein Mann mit einem Weizenbier an mir vorbei. Kurz davor habe ich bei der netten Zugbegleiterin einen Kaffee bestellt, allerdings habe ich mich mit dem Croissant zurückgehalten. Schließlich hatte ich erst bei Reiseantritt ein Bircher Müsli aus einem ökologisch aussehenden Bahnhofsshop vertilgt, bei dem ich mir in Reserve auch gleich noch ein tagesfrisch zubereitetes Geflügel-Bacon-Baguette mitgenommen hatte. Noch vor Erfurt hatte auch dieses dranglauben müssen. Wahrscheinlich hatten mich die beiden mir gegenüber Sitzenden hungrig gemacht, die sich auf dem Bahnhof noch bei Dunkin‘ Donuts eingedeckt hatten und nun ein Teil nach dem anderen aus ihrer Tüte hervorkramen. Zum Nachtisch gibt es bei ihnen Hanuta und Toffifee und ich bedauere sehr, dass ich am Berliner Hauptbahnhof nicht doch noch ein kleines Schokohörnchen mitgenommen habe.

Nicht, dass ich nicht gutgefrühstückt losgegangen wäre heute Morgen: Wenn man so auf Reisen ist, muss man ja beim reichhaltigen Frühstücksbuffet ordentlich zugreifen. Schließlich ist alles bezahlt und außerdem weiß man ja nie, wann es auf der knapp fünfstündigen Reise von Berlin nach Alsfeld wieder was gibt. Und ob es bei den fünf Stunden bleibt, weiß bei der Bahn ja auch niemand. Also: Gut vorsorgen ist die Mutter der Porzellankiste oder so. Schon am Tag zuvor, als ich die Reise in die entgegengesetzte Richtung antrat, hatte ich mich über meinen Reisehunger gewundert, der sich bereits morgens am heimischen Frühstückstisch breitmachte: Während ich aus Gründen einer etwas sparsameren Ernährung in den Wechseljahren unter der Woche weitgehend auf Frühstück verzichte, war ich mit einem kleinen Fleischsalatbrötchen im Bauch aufgebrochen Wie gesagt: Man weiß ja nie. Die Zugverspätung in Fulda (um nicht mal 9 Uhr) nutzte ich für ein zweites Frühstück mit Kaffee und Croissant auf dem Bahnhofsvorplatz und bis Erfurt war dann auch das Leberkäsebrötchen verputzt, das ich mir mitgenommen hatte.

Ein Blick in die Bahnhöfe der Welt lässt vermuten, dass ich bezüglich des Reisehungers kein Einzelfall bin. Die Angebote dort gehen über das, was man für wirklich hungrige Reisende vorhalten sollte, weit hinaus: Asia-Shops, Veganläden, Fast-Food-Ketten, Bäckereien, Metzgereien, Gosch aus Sylt, Salat- und Suppenbars – sie alle sind nur da, um Menschen wir mir zu suggerieren: „Wenn du jetzt nichts mitnimmst, wirst du bei spätestens bei Eisenach verhungert im Waggon liegen.“ Und ich glaube es. Jedes Mal.

Warum ist das so? Während meine zwei Gegenüber mit Bier und Cola aus dem Bord-Restaurant kommen und ich immer noch der Idee eines Schokocroissants anhänge, erinnere ich mich, dass früher die Mitnahme von Reiseproviant das Normalste der Welt war. Niemals wären wir ohne Brote, Obst und Getränke losgefahren – egal wohin. Ich erinnere mich an Busfahren, die ich mit meiner Oma zusammen mit dem VdK gemacht habe – nach Büdingen oder so -, da wurde im selben Moment, in dem der heimische Kirchturm aus dem Blickfeld verschwand, die erste Brötchentüte und die erste Capri-Sonne geöffnet, unnötig zu sagen, dass es bis zur ersten Pipipause nur unwesentlich länger dauerte. Auch unnötig zu sagen, dass die Reisegruppe als erstes nach weniger als einer Stunde Fahrt ein Café ansteuerte und das Lokal für den Abschluss am Abend längst gebucht war.

Einmal so sozialisiert, setzte ich diese Tradition natürlich später fort: Keine Reise ohne Brötchen, Schnuggel und Obst. Familien-Urlaubsreisen schon gar nicht. Auch wenn mit zunehmendem Alter alle Mit-in-den-Urlaub-Fahrer sich über meine Berge an geschmierten Brötchen und Trinkflaschen lustig machten, war es auch hier wieder so, dass nach der ersten Stunde Fahrt alles verputzt war. Alles.

Als ich zu den Gründen für den Reisehunger im Internet recherchierte, fand ich als einziges Indiz dafür: Langeweile. Kann gar nicht sein. Denn wenn ich reise, habe ich neben einem Leberkäsebrötchen und Wasser auch mein Notebook, zwischen acht bis zehn offene Schreibaufträge und mindestens zwei, nach dem Besuch der Bahnhofsbuchhandlungen in den Umsteigepausen auch gerne drei, Bücher dabei. Und Zeitschriften. Und eine Telefonliste. Aber das ist ein anderes Thema. Ich gehe mir jetzt mal ein Schokocroissant bestellen. Und noch einen Kaffee. Ist ja noch ein bisschen hin bis Fulda.