Prosopagno- was?

„Siehst du die Frau, die dahinten steht? Die jetzt auf uns zukommt. Die kenn‘ ich von irgendwo her. Wie heißt die nur?“ „Ja, ich kenne die auch. Aber wie die heißt?“ „Sabine?“ „Wäre in unserem Alter eine Wahrscheinlichkeit von 40%“. „Woher kenne ich die nur?“ „Heike wäre auch gut möglich.“

Kennen Sie solche Gespräche und finden Sie nicht auch, dass sie sich erschreckend häufen? Als ich vor Jahren realisierte, dass ich mir immer schlechter Menschen merken konnte und dass mir immer häufiger Namen auch von alten Bekannten – glücklicherweise nur vorübergehend – entfielen, dachte ich noch nicht, dass es etwas mit dem Alter zu tun haben könnte. Viel eher gefiel mir der Gedanke, unter dem gleichen Syndrom zu leiden wie Bratt Pitt: Prosopagnosie ist der wissenschaftliche Name dafür, dass man sich keine Gesichter merken kann und somit dauernd neue Leute kennenlernt, die das ihrerseits gar nicht so furchtbar lustig finden. Schließlich heißt es ja, dass man selbst zu uninteressant ist, um beim Gegenüber einen so nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, dass er einen bei einer zweiten Begegnung wieder erkennt. Doch das mit den Gesichtern ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist tatsächlich, dass mir immer mehr und öfter Namen abhandenkommen. Früher war das nicht so.

Die 700 Einwohner meines Heimatdorfes zu einem beliebigen Zeitpunkt in den Siebzigerjahren könnte ich wahrscheinlich jetzt noch lückenlos aufzählen, mit Hausnamen natürlich und meistens auch mit Verwandtschaftsgrad. Mindestens einmal die Woche schauten die meisten bei uns im Edeka-Laden vorbei, und wen man nicht kannte, hinter dem wurden so lange Nachforschungen angestellt, bis man wusste, was diese Person in Heubach machte, wo sie wohnte und mit wem sie verwandt oder zumindest bekannt war. Denn sonst wäre sie ja nicht hier. Das passierte vielleicht viermal im Jahr und war somit durchaus überschaubar. Später in der Schulzeit und in der Ausbildung ging es mit den vielen neuen Gesichtern eigentlich auch noch ganz gut, auch wenn ich schon auf unserem ersten Abi-Treffen (mit 24!) Stein und Bein geschworen hätte, mindestens die Hälfte der anwesenden Personen noch nie gesehen zu haben. Und es wurde nicht besser. Mit zunehmender Komplexität des Lebens, sei es im Job, im Freundeskreis, der Familie oder der Digitalisierung, schwand meine Fähigkeit, mir Menschen zu merken. Es ist aber auch so ein schreckliches Kommen und Gehen, finden Sie nicht?

Ganz normal, heißt es in verschiedenen Veröffentlichungen und das sagen im Übrigen auch verschiedene Gedächtnistrainer und haben jede Menge Tipps für Namensversager wie mich, die ich aber gleich, nachdem ich von ihnen hörte, schon wieder vergessen hatte…

Als dieses partielle Hirnversagen sich anfänglich manifestierte, versuchte ich es noch zu überspielen und so zu tun, als hätte ich die Person, die seit zehn Minuten mit mir sprach, natürlich von Anfang an erkannt. Ich hatte die Hoffnung, dass sich im Lauf des Gesprächs herausstellen würde, woher wir uns kennen und worüber man sich dann auch etwas zielgerichteter unterhalten könnte. Bis ich dann merkte, dass dies nicht der Fall sein würde, war es meist zu spät, um zu fragen: „Entschuldige bitte, ich finde unser Gespräch zwar wirklich interessant, aber wie ist nochmal dein Name und woher und seit wann kennen wir uns eigentlich?“ Manchmal fiel mir es dann Tage später beim Duschen oder beim Frühstück ein; einmal war ich so verzweifelt, weil im Rahmen einer Veranstaltung eine Person so gezielt nach dem Befinden meiner Kinder und nach meinem Mann fragte, dass ich später ein Foto in die Menge machte, zuhause auf die Person zoomte und meinen Mann fragte, ob er sie wohl kennt. Es dauerte zwar auch bei ihm eine Weile, aber am Ende konnte er mir tatsächlich sagen, mit wem ich am Abend zuvor über ihn gesprochen hatte. Manchmal, wenn ich eine leise Ahnung habe, wer es sein könnte, oder wenn ich die Funktion einer Person weiß, googele ich sie auch oder schaue sonstwo – bespielsweise möglich in alten Zeitungsberichten, gerne auch von mir selbst verfasst – nach, um wen es sich handeln könnte.

Manchmal habe ich meine Gesprächspartner auch schon der falschen Zielgruppe zugeordnet und mich dann mit ihnen zwar gut über ein bestimmtes Thema unterhalten, das am Ende aber viel eher in einen anderen Zusammenhang gepasst hätte. In diesem Fall bin ich ganz froh, dass ich keine geheimen Neigungen habe. Das ist zwar manchmal langweilig, aber man stelle sich mal vor, man glaube, jemanden aus dem Swinger-Club zu kennen und dabei ist der Geschäftsführer einer Bank! Bestenfalls wäre er beides, was nur geringfügig weniger peinlich wäre.

Letztens auf besagter Party, wo wir über die Namen verschiedenster Gäste sinnierten und froh waren, damit auch im Alter noch einen sinnvollen Zeitvertreib gefunden zu haben, grüßte mich auf dem Weg zur Toilette eine Frau, die mir wirklich sehr bekannt vorkam, ganz besonders herzlich. Natürlich wusste ich nicht, woher ich sie kenne und wie sie heißt und ich saß auf der Toilette und überlegte, wie ich jetzt am geschicktesten an ihr vorbeikommen würde, denn einen anderen Weg gab es nicht. Ohne weiteren Plan machte ich mich also auf den Rückweg und war ganz ängstlich, als die Frau auf mich zukam und mit ihr eine weitere Stunde der Wahrheit nahte. „Also, ich weiß, dass wir uns kennen“, sprach sie mich an, „aber mir fällt grade dein Name nicht ein.“ „Ach“, antwortete ich großzügig, „das macht doch nichts.“ Wir machten uns – vermutlich zum wiederholten Mal – bekannt und verbrachten dann noch ein paar schöne Stunden zusammen. Eins steht fest: Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, denn wer weiß, ob wir uns beim nächsten Treffen wiedererkennen.