Nur Haut und Knochen

Wer mich kennt, weiß, dass ich eher nicht prüde bin. Bevor mein Ausschnitt bei manchen Anlässen zu klein ist, ist er lieber zu groß. Die Tage, wo ich mir das leisten kann, sind ohnehin schon gezählt, also worauf noch warten?!. Wir können stolz sein, auf das, was wir haben, Mädels, und wir können es auch zeigen. Wenn ich mir aber Berichte, beispielsweise über große Filmpreise anschaue, dann beschleicht mich der Verdacht, dass viele meiner Geschlechtsgenossinnen, die berühmten jedenfalls, da irgendwas falsch verstanden haben. Oder ihr Milieu vertauscht.

Kaum eine Schauspielerin, die auf, egal welchem roten Teppich, mehr Stoff um sich hat, als auf einer durchschnittlichen Rolle Geschenkband ist. Anlass zur Sorge gab mir beispielsweise die diesjährige Oscarverleihung. Was umso erstaunlicher ist, weil da ja nicht die Möchtegern-Dschungelcamp-Sternchen auftreten, sondern die, die es ohnehin geschafft haben. Und so kommt es dann, dass unter dem Foto von Charlize Theron nicht etwa steht „Charlize Theron [ʃɑrˈliːz ˈθɛrən], südafrikanische Schauspielerin und Filmproduzentin, Preisträgerin des Oscar und des Golden Globe“, sondern „Charlize Theron in einer roten Dior-Robe. An ihrem Hals funkeln Harry-Winston-Juwelen.“ Mit ihrem Ausschnitt bis zum Bauchnabel war sie – ähnlich wie große Cate Blanchett, deren Auszeichnungen man kaum zählen kann – noch der eher zugeknöpften Fraktion zuzuordnen, was man von Miranda Kerr („in leuchtendem Rot von Kaufmanfranco“ – heißt so, kann ich auch nichts für) nicht gerade behaupten konnte. Zwei Fähnchen verdeckten knapp die Brüste, ein weiteres den mittleren Bauch, die Seiten waren komplett frei – und das Schönste dabei: Die Männer – sofern sie sich überhaupt Gedanken darum machen – glauben allen Ernstes, das würde alles von selbst halten! So wie sie ja auch glauben, dass alle weiblichen Promis über fünfzig immer noch glatte Haut, festes Bindegewebe und das ultimative Mittel gegen die Schwerkraft gefunden haben.

Was glauben Sie denn, wie mein Umfeld mich anschaute, als ich erklärte, dass da nur doppelseitiges Klebeband das Schlimmste verhindert – und das wäre ja gerade in Amerika, diesem in vieler Hinsicht schamlosen Land, das dennoch das schöne Wort Nippelgate hervorgbebracht hat, eine mittlere Katastrophe: Bitte Mädels, zeigt nicht was ihr drauf habt, sondern eure Haut und eure Knochen, aber bitte keine Nippel. Auch nicht zufällig. Und so brilliert Jennifer Lawrence, ebenfalls Oscar- und Golden-Globe-Preisträgerin, in einer „fast durchsichtigen Dior-Robe“ und Schauspielerin Diane Kruger, die ja nun auch nicht gerade ein B-Sternchen ist, „zeigte in ihrem Kleid von Reem Acra viel nackte Haut.“
Ich weiß nicht, ich würde mich zum Beispiel gar nicht freuen, wenn beispielsweise nach meinen Lesungen in dem Zeitungsbericht nichts zu mir und meinen Texten stehen würde, sondern als Bildunterschrift „Traudi Schlitt zeigte – vielleicht zum letzten Mal – ein grandioses Dekolleté in einer Bluse von Textil Sagawe, atemberaubend kombiniert mit einer Hose von Campus und ein wenig geliehenem Modeschmuck von Green House“ stünde. Naja, allerdings ist das vielleicht auch besser als nix…

Warum nur? Warum verwechseln so viele Frauen, schlaue Frauen, inzwischen Party-Look mit Bordsteinschwalben-Chic? Und warum tun das die Männer ihnen – wieder mal – nicht nach? Wie wäre es mit George Clooney oder Hugh Jackman mal in einem netten Anzug, der den Sixpack freilegt und nur sehr knapp über den Lenden wieder schließt? Also, ich könnte mir das gut vorstellen. Sehr gut sogar.
Auf der nächsten Seite der dieser Glosse zugrundeliegenden „Frau im Spiegel“ wird Oscar-Preisträger Leonardo DiCaprio eine ganze Seite gewidmet. Sie kommt ganz ohne Angabe seiner Kleiderhersteller aus und er spricht über Glück und der Wunsch nach Familie. So ein schlauer Mann aber auch – was der alles weiß!