Notfall-Papier

Als ich klein war, sollte einmal die Welt untergehen. Die Bildzeitung hatte zu dieser Zeit noch das alleinige Stimmungsbildungs- und Panikmache-Monopol und so waren alle Leser des schon damals zweifelhaften Blattes im Bilde- ähnlich wie heute mit einem bloßen Blick auf die Headline. Sie erwarteten den Weltuntergang zu einem bestimmten Zeitpunkt, was dazu führte, dass viele von ihnen uns, den Kindern aus dem EDEKA-Laden, noch schnell was zu schnuggeln kauften, um am Tag des Jüngsten Gerichts noch schnell ihr Gute-Taten-Konto aufzufüllen. Die Welt ging nicht unter, die Bild-Zeitung hatte sich getäuscht, und unserer Bountys, Gummibärchen und Kinderschokoladen waren schneller vertilgt, als die Hysterie sich gelegt hatte. So mussten wir sie wenigstens nicht zurückgeben.

Wenn heute die Welt untergehen soll, erfahren wir es auf tausend Kanälen, auf tausend verschiedene Arten der Darstellung, der eine Kanal befeuert den anderen, selbst seriöse Medien können sich nicht entziehen und überbieten sich mit Interviews und Sondersendungen. Und so überschwemmt uns seit einigen Wochen ein böses Virus mit dem schönen Namen Corona. Das Netz und in seinem Fahrwasser auch die Fernseh- und Printmedien machen aus uns allen Experten zum Thema Mortalitätsrate und Desinfektion, Übertragungsvermeidung und Symptomanalysen. Es melden sich Politiker, die glauben, alles im Griff zu haben, Ärzte, die sagen, dass ihnen das Desinfektionsmittel ausgeht, Heilpraktiker, die sagen, das Virus hätte es immer schon gegeben, und Statistik-Freaks, die alle möglichen Todesarten gegeneinander aufrechnen.

Genau wie wir zuvor schon die Chance hatten, unsere eigenen Experten in Sachen Klimaschutz, CO2-Ausstoß und Klimawandel zu werden, können wir uns auch hier aussuchen, wem und was wir glauben möchten: Alles nur eine Verschwörung, um endlich mal der chinesischen Wirtschaft den Saft abzudrehen, bevor sie übermütig und übermächtig wird? Ein Virenunfall aus einem Geheimlabor am anderen Ende der Welt, der nun außer Kontrolle geraten ist? Oder doch nur ein neues Grippevirus wie es immer mal wieder auftritt, allerdings gar kein unbekanntes wie auf Expertenforen im Internet zu lesen ist? Dort kann man sich auch genau darüber informieren, ob Händewaschen reicht, um der Ausbreitung Herr zu werden, oder ob man – rein prophylaktisch natürlich – die vier nächstgelegenen Supermärkte leerkauft, um sich zu rüsten. Aber für was eigentlich genau?

Ja, richtig, für die Quarantäne und den wirtschaftlichen Untergang! Ich vergaß: Wenn jetzt Alsfeld unter Quarantäne gestellt wird, kommen natürlich auch keine Waren mehr rein und ruckizucki wären alle Läden leergekauft. Ach, sind sie schon? O Gott! Ich war wieder zu spät! Mein altes Leiden wird meiner Familie das Genick brechen! Die schlimme Gewissheit folgt beim Blick in das Klopapierregal: Davon werde ich diese Woche keines mehr bekommen und nächste Woche wahrscheinlich auch nicht gleich. Was ich allerdings noch kaufen kann, als sei nichts zu erwarten, ist Zahncreme und Duschgel. Da fragt man sich natürlich, warum kaufen die besorgten Menschen das Klopapier auf, aber nicht die Zahncreme? Wollen die nur kacken, aber keine Zähne mehr putzen? Und duschen wollen sie auch nicht mehr?! Vermutlich rechnen sie mit Wasserknappheit und ich sollte eher Vorrate mit Trockenshampoo anlegen, wenn ich das wollte. Da müsste man dann aber auch eher feuchtes Toilettenpapier kaufen. Und das sollte ich vielleicht mal als einen der intelligenteren Beiträge in die einschlägigen Foren stellen.

Bis jetzt will ich aber gar nichts zusätzlich kaufen. Als eine Person, die im Edeka-Laden aufgewachsen ist und die letzten zwanzig Jahre einen Fünf-Personen-Haushalt zu versorgen hatte, neige ich ohnehin zur Lagerhaltung von Lebensmitteln und Alltagsbedarf aller Art. Und seit ich früher mal aus Versehen ein Wochenende lang keine Zahncreme hatte, habe ich auch davon (und von Duschgel und von Klopapier und Kleenex) stets einen kleinen Vorrat da. Also, ich denke, wir kommen damit durch und wenn nicht, dann tut es mir leid, dass ich alle Hamsterkäuferinnen und -käufer hier so ein wenig schräg anschaue und mir die Frage stelle, ob das Virus vielleicht als erstes gar nicht die Atemwege angreift, sondern das Gehirn. Man wird ja schnell selbst hysterisch: Nicht nur, dass man sich und seine Familie ständig nach Symptomen beargwöhnt, man hat inzwischen auch die latente Angst, dass man vielleicht doch Vorräte hätte anlegen sollen und am Ende bei den Hamsterkäufern zu Kreuze kriechen muss und um Klopapier betteln. Besonders wenn man so wie ich den ganzen Arbeitstag lang auf einen Supermarktparkplatz schaut und es dort jetzt schon tagelang zugeht wie sonst nur vor Weihnachten, und das auch nur, wenn der Heilige Abend ein Sonntag ist und es vor Mittwoch definitiv nichts mehr gibt.

Und natürlich frage ich mich, was das über ein Land aussagt, wenn im Angesicht einer zu erwartenden Krise mit eventueller Todesfolge die Menschen nicht mehr ihr Gute-Taten-Konto auffüllen wollen (was waren sie doch für ein Paradies, die 70er), sondern als erstes die Klopapierregale leer sind. Ich meine, wenn es die Angst vor der Quarantäne ist, dann könnte man doch auch Schokolade und Nüsschen hamstern oder Alkohol und Kondome oder Bücher und Zeitschriften, Wolle, Spiele… Man kann so eine Zeit doch auch sinnvoll nutzen und sie sich schön machen – Krise als Chance sozusagen. Aber nein. Wir kaufen Trockennahrung, Konserven und Klopapier. Wenn schon Quarantäne, dann bitte ohne Spaß. Die Lage ist schließlich ernst. So ernst, dass wir nicht mehr rechts und links schauen. Zu Menschen, die tatsächlich auf Mundschutze und Desinfektionsmittel angewiesen sind und Angst haben, dass die vielen Flaschen in den Abstellkammern der Nation ihrem Verfallsdatum entgegendämmern und sie deshalb keine mehr bekommen. Oder zu Menschen, die schon lange alles verloren haben und die letzten Monate und Jahre in der Türkei ebenfalls in einer Art Quarantäne leben mussten und nun gerne weiterziehen würden. Da könnte man – bei allem Ernst, den das Virus vermutlich bedeutet – mal drüber nachdenken und die eigene Panik vielleicht doch mal ein kleines bisschen zurückschrauben.

Wie dem auch sei: Ich gehe jetzt hamstern. Der Rotwein ist alle.

Dies hätte eigentlich der Schluss sein sollen, doch dann passierte etwas, das noch nie, niemals in meiner fast 22-jöhrigen Ehe vorgekommen ist: Mein Mann, der sich bis dato noch nie für irgendeinen Vorrat interessiert hat und sich an keiner, wirklich keiner Einkaufsliste je beteiligt hat, geschweige denn am Einkauf selbst, blickte mich über den Tisch hinweg besorgt an und sagte in tief bedrücktem Ton: „Wir haben nur noch drei Rollen Klopapier.“ So entstehen Hamsterkäufe. Ich finde, das sollten Sie wissen.