Niksen

Physik war das erste Fach, das ich damals in der Schule mit Leidenschaft abgewählt habe. Das Einzige, was sich mir aus diesem Unterricht nachhaltig eingeprägt und offensichtlich große Wirkung in meinem Leben gezeigt hat, ist die Aussage „Reden ist Silber, Schweigen ist Sechs“ meines damaligen Lehrers Herrn Hosenfeld. Wahrscheinlich sah er anhand meines Engagements im Unterricht einen Anlass zu diesem Spruch, dessen tiefgreifende Weisheit ich in fast allen anderen Bereichen bis heute beherzige. Physikalische Inhalte indes sind mir fremd geblieben. So schaue ich mir stets mit großem Interesse die Kettenreaktion an, wenn in meinem tetrisartig gefüllten Vorratsregal eine kleine Dose wie beispielsweise Tomatenmark ins Wanken gerät, die Oliven und die Sauce Bearnaise mit sich zieht und die Gefahr besteht, dass der ganze Abstellraum verwüstet wird.

Eine weitere physikalische Größe, mit der ich stets Probleme habe, ist bekanntlich die Zeit. Viele Menschen haben sich schon unter objektiven, also wissenschaftlichen, Aspekten mit ihr befasst. Noch mehr versuchen es mit subjektiven, weichen Faktoren: Philosophen, Dichter, Geistliche interpretieren Zeit auf ihre Art und Weise. Fakt ist: Zeit ist flüchtig, geheimnisvoll, wertvoll. Mit mir spielt sie Spielchen ab dem Moment, in dem ich morgens die Augen öffne: Ein ganzer Tag liegt vor mir – randgefüllt mit Möglichkeiten, Aktivitäten und Zwängen und mit – sagen wir mal ab 7 Uhr – 17 Stunden Zeit. Und jeden Abend endet er mit dem Gefühl, diese nicht effektiv genutzt zu haben. Doch nun gibt es Abhilfe und die kommt – wie könnte es anders sein – aus meinem kleinen Lieblingsnachbarland Holland. Dort gibt es die Möglichkeit, Verben zu bilden, in dem man an ein bestehendes Wort die Silbe „en“ hängt. Auf diese Weise haben die Niederländer das Wort „Niksen“ erfunden. (Es hat nur insofern mit dem deutschen Wort „Nixen“ zu tun, als dass man sich vorstellen kann, dass die ungünstig geschweiften Wasserwesen auch nichts anderes tun können, als den ganzen Tag über nix zu tun, zu niksen also.)

Ich las vom Niksen unter der Rubrik Psychologie in einer meiner vielen Fachzeitschriften, die sich mangels Zeit auf dem Mäuerchen neben unserer Toilette und an anderen Stellen türmen. (An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Mann für seine Toleranz bedanken. Ich wüsste nicht, ob ich Männerzeitschriften in solchen Mengen an allen möglichen Orten der Wohnung ertragen könnte.) Mit Begeisterung las ich den Artikel „Am besten nichts tun“: „Hirn ausschalten, Gedanken schweifen lassen: Das nennt sich ‚Niksen‘ und bringt Klarheit“ hieß es da, und da ich für widersinnige Argumente stets empfänglich bin, war ich direkt Feuer und Flamme für die Idee, dass gepflegte Pausen mir mehr Zeit bringen könnten und dabei helfen, meine vielen unerledigten Dinge zu tun. Da man sich auf so etwas gut vorbreiten muss, kaufte ich mir direkt zwei Bücher zum Thema Niksen, auch wenn ich in der Zeit, in der ich las, natürlich nicht niksen konnte. Aber man kann ja nicht alles haben. Viele Dinge, die in den wunderschön gestalteten Büchern las, waren mir nicht neu. Aber so schön gedruckt hatten sie doch gleich viel mehr Gewicht: Wer nikst, heißt es da zum Beispiel, habe mehr Energie, sei gesünder, führe ein glücklicheres Familienleben und tue etwas für seine geistige Gesundheit. Natürlich wusste ich auch schon vorher, dass das Gehirn Pausen braucht, um gesund zu bleiben und – wie es hieß – bereits vorhandene Schäden zu reparieren. Vorhandene Schäden zu reparieren, auch nicht schlecht. Aber bei dem Gedanken, vor meinem übervollen Schreibtisch respektive chaotischen Haushalt zu sitzen und zu niksen, wurde ich ehrlich gesagt doch recht hibbelig. Ich bin nicht so der Typ, der nikst, dachte ich.

Doch ich blieb dran. Mit der Zeit füllte sich mein erstes Niksen-Buch mit vielen bunten Postits. So wie früher, als ich noch viel bewusster las und mir im Anschluss an ein Buch sogar die Zeit nahm, schlaue Dinge rauszuschreiben, hatte ich hier wieder mal das Bedürfnis, Wichtiges zu markieren. „Die Krönung des Niksens ist Niksen im Liegen – im Bett, auf dem Sofa, im Gras.“ Horror. Ich liege nur auf dem Sofa, wenn ich krank bin, ich liege im Bett zum Schlafen und ich liege niemals im Gras. Könnte es vielleicht sein, dass mir da Einiges entgeht? Oder wäre das der Zeitpunkt gewesen, die Niksen-Bücher einfach einer empfänglicheren Person weiterzugeben?

Doch vieles, was ich las, erkannte ich wieder: Den ständigen Jammer über zu viel Arbeit und das gleichzeitige Streben danach, das vielleicht tatsächlich Ausdruck der Selbstbestätigung ist, die man braucht, die ich brauche. Von „Betriebsamkeit als Statussymbol“ war die Rede, vom protestantischen Arbeitsethos. Was es auch sei: Ein klares Nein ist mir fremd. „Wir haben den Anspruch, die sprichwörtlich eierlegende Wollmilchsau zu sein. Wir erwarten, immer für alle alles zu sein. Das Leben eines modernen Menschen ist furchtbar anstrengend“, sagt Olga Mecking in ihrem Buch „Niksen. Vom Glück des Nichtstuns“. Ich würde noch ein Stück weitergehen und sagen „Das Leben einer modernen Frau ist furchtbar anstrengend.“ Nicht nur ich habe diesen Eindruck: Olga Mecking zitiert Studien, nach denen „Männer in heterosexuellen Beziehungen nicht nur mehr Zeit haben als Frauen, sondern diese auch besser zu verteidigen wissen.“ Kann natürlich sein, dass ich diesen Eindruck wieder nur durch meinen Frauenfilter wahrnehme, aber auch ich sehe in erster Linie Frauen umherwuseln wie die Hamsterinnen in ihren Rädern, stets auf dem Sprung von A nach B, im Bewusstsein, niemals zu genügen, denn wenn der Job gemacht ist, sind die Betten noch unordentlich. Wenn diese gemacht sind, haben die Kinder und der Mann Hunger und der Hund muss auch noch raus. Und Pilates ist auch noch. Nun könnte man ja meinen, Hund raus und Pilates wären Niks-Anlässe. Sind sie aber nur bedingt. Das reine Niksen ist tatsächlich, wenn man wirklich, wirklich gar nichts tut. Und schon gar nichts Zielgerichtetes. Hund raus und Stricken oder Musik hören werden gerade noch so als Krücken auf dem Weg zum Niksen angesehen: „Aktivitäten, für die nur ein geringes Maß kognitiver Kapazitäten erforderlich ist, geben den restlichen Verstand frei“, sagt die Expertin, und schon dachte ich, da könnte ich ja vielleicht auch bügeln statt niksen. Auf jeden Fall machte mir Olga Mecking im Vorspann des Buches so viel Lust auf Holland und Holländisch, dass ich im liebsten direkt einen VHS-Kurs dazu belegt hätte. Aber das wäre ja wieder ungünstig für das Niksen. Günstig wiederum wäre es, mit dem Niksen in einer aufgeräumten, reizarmen Umgebung anzufangen. Tja, da wäre dann vor dem Niksen aber noch allerhand zu tun, würde ich sagen, und stehe vor dem nächsten Dilemma: Aufräumen oder Niksen? Angeblich geht beides, wenn man es richtig anstellt, stimmt ja, denn: Niksen ist nicht Prokrastinieren. Schade eigentlich.

Annette Lavrijsen sagt in ihrem Buch „Niksen. Wie man Glück im Nichtstun findet“ folgenden gewichtigen Satz: „Nichtstun sollte nicht die Ausnahme sein, sondern eine langfristige Lösungsstrategie. Es ist die Medizin gegen den Irrsinn der Welt.“ Wenn das so ist, wäre es natürlich wichtig, dass möglichst viele Menschen niksen, auch diejenigen, die noch weniger Zeit haben als ich und – womöglich aus genau diesem Grund – ein ganzes Stück irrsinniger sind als ich. Gerade für sie wäre es am besten, niks zu tun.

Aus den beiden Niksen-Büchern erfuhr ich auch (wieder), wie wichtig es ist, regelmäßig Arbeitspausen zu machen, nicht am Schreibtisch nebenbei zu essen. Mehr noch: Die beiden empfehlen, auch an der Arbeit hier und da mal zu niksen – das steigere die Produktivität und daher dü

rfte ja wohl auch der Chef da kaum was geben haben. Zumal Studien belegen, dass wir von acht Arbeitsstunden nur drei wirklich produktiv sind. Produktivität, so heißt es in dem Buch von Olga Mecking weiter, sei neu zu definieren, sodass man sich einfach produktiv fühlen könne, wenn man auf der Couch liegt.

Alles reine Definitionssache also, wie so häufig in den mir völlig fremden Naturwissenschaften. Ich würde sagen, da geht doch was! Ich definiere Niksen vielleicht ein wenig traudimäßig um: Mit dem Hund gehen oder stricken, lesen und mit Freundinnen quatschen, ist zwar nicht niksen, aber es besser als nicht niksen. Und vielleicht gelingt es mir ja, täglich ein bisschen mehr zu niksen. Im Zug nach Berlin schaute ich vergangene Woche sage und schreibe fünf Minuten sinnlos aus dem Fenster, bevor ich pflichtschuldig im Niksen-Buch weiterlas. Und diese Woche an der Arbeit habe ich tatsächlich beim Mittagessen schon einmal nicht gelesen, nicht im Internet gesurft und nicht bei Facebook geschaut, sondern auf den schwarzen Bildschirm gestarrt. Es kommt der Tag, da verlasse ich in den Pausen sogar mein Büro. Wer weiß. Bis dahin nikse ich einfach auf Anfängerniveau vor mich hin.

Und jetzt noch eine Info für Sie: Wann immer Sie mich sehen und ich einfach so in die Luft oder vor mich hinschaue – machen Sie sich keine Sorgen, dann nikse ich. Niksen Sie doch einfach mal mit.