Neue Freiheit

Verglichen mit der Situation von Menschen in Gefangenschaft, in Flüchtlingslagern und unfreien Gesellschaften waren wir hier ja nie richtig unfrei. Aber wir fühlten uns so die letzten Monate. Und ein bisschen ist ja alles auch relativ, wie wir wissen. Wir waren nicht frei, auszugehen. Weder die Uhrzeit noch das Ziel, nicht mal die Gesellschaft konnten wir uns aussuchen. Wir waren eingeschränkt, weil es keine Angebote gab: Alles hatte zu: die Läden, die Museen, die Konzerthallen, die Vereinsheime, selbst die Kirchen waren nicht die alten. Was erzähle ich euch! Doch jetzt, merkt ihr es auch, jetzt kann man sie schon riechen, die neue Freiheit! So ungewohnt ist sie uns noch, dass wir uns gar nicht richtig raustrauen. Und so ganz echt ist sie ja auch noch nicht, denn es gibt immer noch, immer noch Regeln! Abstands- und Hygieneregeln. Ich hasse sie, ich glaubte, ich sagte das schon mal an anderer Stelle. Ich finde Abstand furchtbar (Hygiene geht). Und Kontaktbeschränkungen. Die finde ich am schlimmsten. Zumal man ja nie weiß, wie die grade sind. Dürfen wir jetzt schon wieder zu zehnt irgendwo sitzen? Und wie viele sind zehn eigentlich? Gibt es wirklich sooo große Ansammlungen und kann man das wirklich ertragen, konnte man es je? Und wenn man es darf, dann mit Abstand, mit Mundschutz, mit Test, mit Impfung, mit Hund (Welche Rasse? Männlich? Weiblich?), in der Jogginghose, und wenn ja, dann wirklich die ganze Nacht? Und mit Alkohol oder ohne? Diese Fragen sind ja nicht unerheblich, und ein bisschen kommt man sich so vor wie mit vierzehn, damals, als man nach der Konfirmation plötzlich ausgehen durfte, ja, fast musste! Wie, ihr wart noch nicht wieder in der Pizzeria? Das geht doch nicht! Ist ja auch ein sozialer Akt, schließlich müssen wir doch die heimische Wirtschaft fördern! Deshalb muss man auch dringend nochmal schauen, ob man nicht doch noch eine Hose braucht und ein passendes Paar Schuhe dazu. Shoppen und Essengehen für den Erhalt der Infrastruktur sind das Gebot der Stunde! Mir nach! Ich weiß, wie das geht!

Und dann erst die Kultur – also im Sinne von Goethe, der ja meinte, alles, was der Mensch treibt, kultiviere ihn. Habt ihr gesehen, wie Alsfeld und alle Orte im Vogelsberg (dem Kreis mit der aktuell niedrigsten Inzidenz in Hessen, aber wir haben gelernt, wie schnell sich das drehen kann) langsam wieder aufmachen: Es werden Veranstaltungen geplant, draußen meistens, aber immerhin. Es gibt wieder Sport, es gibt wieder Musik, es gibt wieder Treffen, ach, das Leben kehrt zurück! Der erste Aperol in der Eisdiele auf dem Marktplatz (sorry, liebe Alsfelder, ich meine den Lauterbacher Marktplatz), zwanglose Begegnungen beim Bummel durch die Stadt, einfach gute Laune, weil auch noch das Wetter mitspielt, könnte es schöner sein? Selbst die Entenfamilie auf meinem Weg zur Arbeit am Erlenteich hat ihren Radius erweitert, ganz so, als habe auch sie gemerkt, dass sich etwas geändert hat.

Und schon warnen sie wieder, nicht nur vor der vierten Welle und der Deltavariante, sondern auch vor dem Post-Corona-Burn-Out, der uns ereilt, wenn wir jetzt alles, was wir versäumt haben, nachholen möchten. Natürlich können wir jetzt nicht alles nachholen, aber einiges doch, und ihr könnt mir glauben: ICH GEBE ALLES! Diese Woche hatte ich schon wieder jeden, also wirklich jeden Abend einen Termin, von Juni bis November ist jeden Monat eine kleine Reise geplant, und sollte der Dezember auch noch frei sein, nicht im Sinne von Zeit, sondern von Corona-Stress, dann fällt mir da sicher auch noch was ein.

Die Freiheit hat uns wieder, das Leben ist zurück. Und da wir jetzt schon zweimal schmerzlich erfahren haben, wie schnell sich alles wieder drehen kann, sollten wir nicht zögern zuzufassen. Den Moment zu genießen, die schönen Momente zumindest. Pläne machen. Wir sind ja Meisterinnen und Meister darin geworden, sie einfach abzusagen. Aber dass nichts passiert, nur weil wir uns jetzt nichts mehr vornehmen, das geht gar nicht. Also, Mädels und Jungs! Plant die Party (im Freien), plant die Reise (nicht zu weit weg), fahrt ans Meer, an den See, in die City, geht shoppen, geht essen, geht tanzen, sobald es wieder geht, oder tanzt allein auf der Wiese, auf dem Marktplatz, wo auch immer.

„Die Welt hat nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden“; sagte Abraham Lincoln. Gut so, lasst uns unsere eigene Definition davon basteln. Heute sind wir frei.