Menschen des Jahres

Da sind sie wieder, die Menschen des Jahres, die Berühmten, die Reichen, die Politiker, die Künstler, die Helden, die Retter, die die Außergewöhnliches geleistet, gesagt oder getan haben. In vielen Jahresrückblicken werden sie gewürdigt, und während die Reichen und Berühmten reich und berühmt bleiben, gehen die Einmal-Helden und Allzeit-Retter, diejenigen, die Außergewöhnliches gesagt und getan haben, meist zurück in ihren Alltag. Wo sie sich, glaube ich, auch ganz wohlfühlen. Für mich waren diese Betrachtungen mal Anlass, über Mikro- und Makrobeziehungen nachzudenken und dort nach meinen Menschen des Jahres zu suchen.

Als Mikrobeziehungen wurden in einer meiner Fachzeitschriften, ich glaube, in der guten, alten Brigitte, Beziehungen definiert, die man so im Alltag hat. Die auf den ersten Blick nichts bedeuten, aber irgendwie doch fehlen würden, wenn man sie nicht hätte. Und während ich so darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich viele meiner Menschen des Jahres gar nicht kenne. Die Müllmänner zum Beispiel. Zu denen habe ich jetzt nicht so die Mega-Beziehung, aber wenn sie nicht wären, dann wäre es auf jeden Fall, sagen wir mal, schwierig. Genauso wenig kenne ich den Zeitungsmann, der uns morgens, lange bevor wir alle aufstehen, die Zeitung einwirft. Jeden Tag. Meistens fällt seine Existenz nur dann auf, wenn die Zeitung mal fehlt und man enttäuscht und ohne die neuesten Nachrichten vom Briefkasten zur Haustür zurückstapft. Ganz schön ungerecht, oder? Und dann erst der Schornsteinfeger. Er kündigt seinen Besuch per Karte an und ich muss ihm dann immer einen Weg durch mein Bürofenster auf das Dach freimachen. Ja, freimachen. Mehr sage ich dazu nicht. Am Nachmittag, wenn ich die Schneise wieder schließen möchte, künden kleine schwarze Krümel und große Fußabdrücke auf der ausgelegten Zeitung auf meinem Regal von seiner Anwesenheit, die ja nicht nur praktischen Nutzen haben soll, sondern auch Glück bringen soll.

Persönlich, wenn auch nicht allzu gut, kenne ich von den Morgen- und Vormittagsmenschen des Jahres zumindest meine Bäckereifachverkäuferin. Dreimal die Woche stehe ich morgens um halb sieben (meistens) geschniegelt und gesport bei ihr vor der Theke und komme mir so vor, als hätte ich mit dem Aufstehen, Anziehen und dem ersten Kaffee um sechs schon die Hälfte des Tagesziels erreicht. Dann steht sie schon längst in einem Laden, der allseits nach feinsten Backwaren, allen voran frischen Brötchen, riecht. Die Auslagen sind voll und im Hinterraum werden eifrig Brötchen für hungrigen Durchfahrende geschmiert. „Zwei oder drei?“, fragt sie mich meistens, und wenn der Laden wegen Krankheit mal zu hat, dann fehlt mir was. Was früh am Morgen die Bäckereiverkäuferin ist, ist am Abend – wenn auch nicht dreimal die Woche – der Italiener meines Vertrauens. Noch bevor er mir die Speisekarte hinlegt, steht ein schöner Primitivo vor mir, und welchen Schnaps es nach dem Essen gibt, weiß er auch. Danke dafür, ihr lieben Mikrobeziehungspartner, die wie die Frau hinter dem Postschalter oder der Metzgertheke stets Zeit für einen kleinen Plausch haben. Hier gilt mein besonderer Dank dem unbekannten Partner am anderen Ende der Metzgerei-Bestell-Whatsapp-Hotline. Schnell, witzig und zuverlässig antwortet er (oder sie) und macht mir Steaks und Würstchen fertig zum Abholen – natürlich mit Schwätzchen vor und hinter der Theke. Einmal hatte ich mich bei der Bestellung vertan und diese an eine Nummer verschickt, die dreimal die Besitzerin gewechselt hatte. Eine unbekannte Frau schrieb mir zurück, sie hätten wieder Kartoffelwurst noch Lammsteaks, aber das alles würde sich sehr lecker anhören und sie wünschten uns guten Appetit. Mikrobeziehungen gehen also auch online. Aber analog sind sie schöner.

Beziehungen dieser Art gibt es viele. Sie machen einem das Leben durch ihre Existenz angenehm (wie der Osteopath), schöner (wie die Friseurin oder die Fußpflegerin) oder sogar länger (wie der Gastroenterologe oder der Gynäkologe, über deren Wirken ich mich hier nicht dezidiert äußern möchte). Ihnen und allen ihren Teams (auch dem meiner Haus- und Zahnärztin) sei zum Jahresende gedankt. Ohne sie alle wäre das Leben echt schwierig, wohingegen man es sicherlich ohne Thomas Gottschalk oder Taylor Swift aushalten könnte, es sein denn, man wäre seine Frau oder ihr Mann.

Meine Menschen des Jahres sind aber nicht nur die Dienstleister im engeren und weiteren Sinn. Es sind auch die Menschen um mich herum. Meine Familie an erster Stelle, die mich zwar fordert und manchmal auch ein kleines bisschen aufregt, aber auch so sein lässt, wie ich bin. Ohne sie würde mir nicht nur was fehlen, sondern ohne sie wäre ich einfach nichts. Und meine Freundinnen und Freunde. Was ich über sie sagen könnte, ist so vielfältig, manchmal auch verrückt und reich, dass es den Rahmen einer Kolumne sprengen würde. Vielen Dank auf jeden Fall für Spaziergänge und Gespräche, für Feiern und das Gegenteil von Feiern, für Strahlen und Leiden. Für Mode-, Abnehm- und Büchertipps, für Aperol-Abende und Katerfrühstücke. Für Wechseljahres-, Gesundheits- und Schminkberatungen, für alles halt.

Zwischen diesen beiden Stufen tummeln sich gute Bekannte, die Arbeitskollegen, die Buchhändlerinnen vor Ort und in der Umgebung, die Menschen, mit denen ich in diesem Jahr zusammenarbeiten durfte, aufgetreten bin, Spaß hatte. Vereinskollegen, Künstlerinnen und die, die ich hier vergessen habe.

Ihr seid meine Menschen des Jahres. Hoffentlich auch des Kommenden. Dankeschön.

(Bild: Wilhelm Gunkel auf Unsplash)