Meine Zeit! Meine!

In Wartezimmern gesessen und gewartet habe ich schon oft und lange. Sehr oft und sehr lange. Ich weiß nicht warum, aber letzten Mittwoch war der Tag, an dem sich in der dritten Stunde meines Wartens in einer Gießener Facharztpraxis so ein zunehmend aggressives Kribbeln in mir ausbreitete. Am 7.2.2018 wollte ich es nicht mehr hinnehmen, dass man mich minutengenau um 9:20 Uhr bestellt und sich um 11:30 immer noch nichts, NICHTS, getan hatte. Zumindest nicht für mich. Um mich herum kamen und gingen die Menschen, verschwanden in den vielen Gängen und Behandlungszimmern. Engagierte Medizinische Fachangestellte an den Rezeptionen werden mir vorwerfen, dass ich das ausgeklügelte Praxismanagementsystem nicht verstehe, und da haben sie auch genau recht. Erklären Sie mir bitte, warum einige Praxen ihre minutengenauen Terminvergaben mit einem Spielraum von zehn oder zwanzig Minuten einhalten und andere nicht? Weil es ihnen egal ist, vielleicht, wie lange die Patienten warten? Ich glaube schon! Um meinen Termin um 9:20 Uhr einhalten zu können und nicht zu spät zu kommen, organisierte ich einen Schulfahrdienst für mein Kind und sagte eine morgendliche Besprechung an der Arbeit ab – all das hätte ich in meiner Wartezeit noch locker geschafft! Mein Auto parkte ich ganz schnell in der erstbesten freien Lücke und schmiss meinen letzten Euro in den Parkautomaten. Für eine Stunde, was, zugegeben, optimistisch war.

Um 11:30 schließlich fragte ich, wann ich denn drankäme, und durfte mich dann auch schon bald in eines der vielen Behandlungszimmer setzen, um noch ein wenig weiterzuwarten. Wenn um zwölf keiner hier ist, gehe ich, dachte ich und merkte, wie mir der Kamm schwoll. Um fünf vor zwölf kam der Arzt und fragte mich, ob der Grund für mein Hiersein ein Berufsunfall sei, denn dann dürfe er mich gar nicht behandeln. Das hätte man natürlich unmöglich bei der Anmeldung abklären können, aber es war privat passiert. Ich hatte Glück.

Allerdings hatte ich mir während des zweieinhalbstündigen Wartens vorgenommen, diesen verschwenderischen Umgang mit meiner Zeit nicht unkommentiert zu lassen, und sagte dem Arzt, dass ich das doch ganz schön lang fände. Er und seine Sprechstundenhilfe schauten sehr überrascht. Offenbar war es das erste Mal, dass jemand sich darüber beschwerte. Wenn ich mit ihm sprechen wolle, müsse ich das in Kauf nehmen, sagte er lapidar und erläuterte mir seine Arbeitsweise. Schließlich müsse er in erster Linie darauf achten, was mit seiner Zeit sei. Die wahrscheinlich auch wertvoller ist als meine und die der anderen Wartenden, dachte ich, und fand es auf einmal sehr arrogant, dass jemand sich anmaßt, seine Zeit über meine zu stellen (auch wenn sie besser bezahlt ist), mir Stress mit meinen Terminen zu machen, und gar nicht auf die Idee kommt, dass daran irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Es ist meine Zeit, MEINE! Ich bin hier die Kundin, dachte ich, und ich hatte einen Termin. Ich hatte nichts von einem Notfall mitbekommen, es gab also keinen Grund für das Warten, außer dass es den Wartenlassenden egal ist. Einfach, weil es immer so ist.

Es gibt aber auch keinen Grund, dachte ich, meinen Unmut darüber nicht kundzutun. Man hat ja als Kassenpatientin Ärzten gegenüber immer so eine leicht devote Grundhaltung. Oder hätten Sie vielleicht bei Ihrer Friseurin oder Podologin ein Problem, ihr die Meinung zu sagen, wenn sie Sie zweieinhalb Stunden warten ließe? Man kann dankbar sein, dass man behandelt wird und der Arzt einem fünf bis zehn Minuten seiner Zeit schenkt – das ist doch die gängige Einstellung. Man will ja auch nicht gleich die Stimmung versauen und die kostbare Zeit des Arztes mit solchen Nebenschauplätzen verplempern. Ich habe diese Haltung auch, und sie sitzt tief. Anerzogen über Generationen von Kassenpatienten. Seit dem 7.2. werde ich dagegen angehen. Ich möchte nicht halbe Tage im Wartezimmer sitzen und ich möchte als Patientin ernstgenommen werden. Noch so eine ungeheure Forderung, aber für die reicht hier der Platz nicht. Die nächste Gelegenheit zur Einübung dieser neuen Kompetenz bahnt sich schon an: Ich habe eine Überweisung zu einem weiteren Spezialisten bekommen. „Da müssen Sie dann aber etwas Zeit mitbringen“, riet mir der Arzt, denn da würde es wirklich lange dauern. Schönen Dank auch.

Als ich zu meinem Auto zurückkam, hing eine kleine Aufmerksamkeit vom Gießener Ordnungsamt an der Windschutzscheibe. Und in den Nachrichten erfuhr ich, dass meine Wartezeit anderswo erfolgreicher genutzt worden war: In Berlin war der Koalitionsvertrag fertig geworden. Was lange währt – aber das weiß man ja heute auch nicht….