Lost in Strebendorf
Wenn ich während der Schulzeit frei oder Urlaub habe, klingelt mein Wecker um viertel vor sieben statt um viertel vor sechs. Meistens wache ich dann um viertel vor sechs schon mal prophylaktisch kurz auf und freue mich schlaftrunken, dass ich noch ein Stündchen schlafen kann. Diese eine Stunde nutze ich dann, um den größten Unsinn ever zu träumen. Heute habe ich in dieser Zeit mit Boris Becker um das Sorgerecht eines kleinen Jungen gestritten. Ich nehme an, es war unser gemeinsames Kind. Waahh! Ich hatte mich mit ihm, also dem Jungen, in einer dunklen Kaschemme verschanzt, aber Boris Becker hatte uns aufgespürt, und die Barfrau, die auf meiner Seite war, versuchte nun, ihn wieder loszuwerden. Gleichzeitig kam noch ein Mann von der Wasserschutzbehörde, der irgendein Gebiet zum Wasserschutzgebiet erklären wollte, womit ich zusätzlich zu kämpfen hatte, warum auch immer – nicht, dass ein Kind von Boris Becker schon schlimm genug wäre.
Wenn man davon ausgeht, dass man in seinen Träumen Dinge verarbeitet, die irgendwie mit einem selbst zu haben, wäre das Boris-Becker-Wasserschutz-Ding wirklich ein Anlass, jede erdenkliche Menge Geldes in die Hand zu nehmen und eine Expertin zu befragen, was es damit auf sich hat. Nachdem ich mich im Bad fertiggemacht hatte, und Boris Becker in dem warmen Abwasser meiner Dusche mit weggespült hatte, wollte ich es gar nicht mehr wissen. Ich hätte auch meinen Mann nicht mit irgendwelchen sich vielleicht offenbarenden geheimen Sehnsüchten belasten wollen. Und mich ehrlich gesagt auch nicht.
Es ist schon völlig irre, was man so träumt, im Schlaf, wenn man die Kontrolle über sich selbst abgibt – und zwar an das Stammhirn, wie ich gelesen haben, einer entwicklungsgeschichtlich uralten Region des Hirns, wo essenzielle Funktionen wie Atmung, Herzschlag, Schlaf und Hunger kontrolliert werden. Dort werden hin und wieder zufällige Erregungsmuster abgefeuert, die dann, wenn wir wach sind, vom Großhirn einem Realitätscheck unterzogen werden. * Danke, liebes Großhirn! Aber dazu muss man halt wach sein und das ist man ja nicht, wenn man schläft. Und da passieren dann die merkwürdigsten Dinge: Einmal hatte ich mich in Strebendorf verirrt. Strebendorf ist sechs Quadratkilometer groß und hat 264 Einwohner. In Gegensatz zu vielen anderen Dörfern dieser Größe verfügt es über ein sehr komplexes Straßennetz, das in meinem Traum noch durch einen Ring rund um den Ort ergänzt wurde. Ich weiß nicht, warum ich dort war, aber ich kam nicht wieder raus. Jetzt ist es zwar möglich, dass es das ist, was manche Strebendorfer jeden Tag erleben, aber was um Himmels Willen hatte ich damit zu tun? Ich war „Lost in Strebendorf“, konnte versuchen, was ich wollte, und kam nicht weg. Erst als ich aufwachte und das auch noch völlig unerwartet in meinem Bett in Altenburg, dem Schwabing von Alsfeld (Wir erinnern uns vielleicht – oder war das auch nur ein Traum?), war ich sehr erleichtert, nicht für den Rest meines Lebens in Strebendorf kreisen zu müssen.
Noch furchtbarer als diese Träume aber sind ja diese schlimmen nächtlichen Gedankenkarusselle, wenn man nachts aufwacht und sich das ganze unerledigte Tagewerk der vergangenen und kommenden Tage vor einem auftürmt. Aus den im Tageslicht und im Wachen betrachteten Kleinigkeiten werden unüberwindbare Probleme, Labyrinthe an nicht zu bewältigenden Aufgaben, es sei denn man würde diese merkwürdige Schlaf-Wach-Phase schon direkt nutzen, um damit anzufangen. Eine Mücke wird zu einem Elefanten, aber, hey, es sind nur die Hormone, wie ich kürzlich las: Das Schlafhormon Melatonin und das Stresshormon Cortisol liefern sich, wenn man nachts aus Versehen wach wird, einen kleinen Wettkampf. Cortisol verliert, weil nachts weniger davon produziert wird, und dem Schlafhormon erscheinen unsere Aufgaben natürlich als viel zu groß. ** Seit ich das weiß, sage ich nachts immer zu mir, hey, es sind nur die Hormone, aber denen ist das egal. Morgens ist dann glücklicherweise meist alles wieder gut – sofern man doch noch ein wenig Schlaf gefunden hat.
Das mit dem Schlaf ist schon eine merkwürdige Sache. Wenn man schläft, merkt man es nicht, nur wenn man nicht schläft, dann belastet es einen. Und wenn man so Sachen träumt wie die Geschichte mit Boris Becker, von der man in dem Moment sogar überzeugt ist, dass sie wahr ist, das belastet einen natürlich auch. Es sei denn, man ist Lilli Becker. Aber die bin ja nicht. Was auch wieder schön ist. Es gibt ja so Träume, in denen man sogar mitträumt, dass es ein Traum sein möge, aber es scheint ja keiner zu sein – bis zu dem Moment, wo man dann doch wachwird. Kann man eigentlich seinem Verstand, seinem Gehirn und sich selbst noch trauen, wenn man imstand ist, in unkontrollierten Momenten so einen Unsinn zu fabrizieren?
Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, denke ich. Sehen wir es als nächtliches Entertainment, als Action- oder Abenteuerfilm, oder als Liebensfilm mit manchmal erotischem Einschlag. Nicht, dass ich da jetzt näher drauf eingehen wollte. Und das Schöne: Selbst die längste Reise mit Boris Becker in Strebendorf ist am nächsten Morgen wieder vorbei. Puuh – nochmal Glück gehabt…