Liebesmodus
Wir haben ein Jahr hinter uns gelassen, als dessen Wort des Jahres „Krisenmodus“ in die Annalen eingehen wird. Gefolgt von „Anti-Semitismus“ und „leseunfähig“. Die Liste enthält weitere wenig aufmunternde Begriffe wie „hybride Kriegsführung“ und „Migrationsbremse“. Der freundlichste Begriff aus der zehnstelligen Aufzählung ist „Kussskandal“, aber auch nur, weil das Wort „Kuss“ darin vorkommt. Obwohl so ein „Kussskandal“ ja auch irgendwie vielversprechend ist. Natürlich nicht, der auf den sich das Wort bezieht. Sie wissen schon: Alter Funktionär küsst junge Fußballerin. Also, insgesamt gut, dass dieses Jahr hinter uns liegt, oder?
Allerdings: Es geht ja irgendwie genauso weiter, die Krisen in der Welt haben sich ja in der Silvesternacht genauso wenig aufgelöst wie unsere persönlichen Sorgen und Ängste, die wir so mit uns herumschleppen. Und wenn ich so an mich denke, kann ich sagen: Das sind nicht wenige – obwohl ich sie nicht vor mir hertrage. Und weil das so ist, und ich im Lauf meines Lebens zu der Erkenntnis gekommen bin, dass wir alle viel weniger Einzelfall sind, als wir meinen, bin ich sicher, dass jedem und jeder von Ihnen gerade ein, zwei Dinge durch den Kopf gehen, vielleicht bis ins Herz.
Sei’s drum: Es liegt zwar vielleicht nicht unbedingt auf der Hand, aber alles, was wir haben, um in dem ganzen Schlamassel irgendwie zurecht zu kommen, ist die Möglichkeit, den Mut nicht zu verlieren. Immerhin. Das Schöne sehen, optimistisch bleiben. Wie lange das geht? Ich weiß es nicht. Bei mir geht’s bis jetzt noch. Meistens. Und wenn nicht, dann schütte ich bei lieben Menschen mein Herz aus. Knalle den ganzen Scheiß auf den Tisch, rühre dreimal um, trinke ein, zwei Gläser Wein, rauche ein, zwei Zigaretten, lass mich drücken und trösten, packe den Scheiß wieder ein und mache weiter.
Und weil mich der Mut noch nicht verlassen hat, habe ich auch in diesem Jahr wieder Vorsätze gefasst. Nicht so die Standards wie mehr Sport, weniger Gewicht und mehr Schlaf (obwohl mehr Schlaf wäre echt schön), sondern was richtig Schweres: Ich will gut sein. Ein Gutmensch werden, wenn Sie so wollen, schon allein, weil ich nicht will, dass das Wort Gutmensch was Schlechtes sein soll. Was ist das für ein Land und für eine Sprache, die Menschen, die Gutes möchten, so verhöhnt?
Also, was will ich: Ich möchte besser kommunizieren. Vieles von dem, was nicht läuft, ist nach meiner Erfahrung darauf zurückzuführen, dass wir uns entweder nicht gut ausdrücken, wir nicht gut zuhören oder beides. Bei beidem habe ich eklatantes Potential, wie es immer so schön heißt. Mein Talent ist zum Beispiel, meinem Gegenüber zu unterstellen, genauso tief in einem Thema zu stecken, über das ich schon Wochen brüte. Meine Anfragen und Aussagen dazu sind dann entsprechend unklar für jemanden, der zum ersten Mal davon hört. So kann es dann schon mal vorkommen, dass ich meinen Mann bitte, die Jungs irgendwo abzuholen, wo ich sie hingefahren hatte, ohne ihm zu sagen, wo das ist. Ein weiteres meiner Talente, sagt zumindest mein Mann, ist es, Leuten ins Wort zu fallen. Jetzt könnte ich natürlich sagen, klar, wenn er meint. Aber wenn ich mal drauf achte, dann ist es wirklich so. Und dann bin ich – trotz anfänglichen Umuts – dankbar, dass mir das auch mal einer sagt. Obwohl er es natürlich nicht jedes Mal sagen müsste. Inzwischen schaut er mich auch manchmal nur an mit dem „Merkste-jetzt-schon-selbst“-Blick. Ja, merke ich. Danke.
Weiteres Potenzial sehe ich darin, wieder ein größeres Meinungsspektrum zuzulassen. Es gibt nicht nur richtig und falsch, es gibt viele Zwischentöne bei gesellschaftlichen und privaten Themen. Früher, als ich noch Thekenpersonal im Landgasthof war, habe ich gesehen, wie Menschen diskutiert haben bis aufs Blut und sich nicht einigen konnten. Danach haben sie zusammen ein Bier getrunken oder Fußball gespielt. Wobei ich nach wie vor nicht mit jedem ein Bier trinken und Fußball spielen will. Es gibt rote Linien.
Heute habe ich den Eindruck, dass eine Meinung entweder komplett passen muss oder die Person mit der falschen Meinung ist abgehakt. Schublade auf, rein, fertig. Ist einfach, aber auch blöd. Denn es macht das eigene Meinungsbild eng und verhindert den Diskurs. Auch wenn der anstrengend ist. Und manchmal auch zu gar nichts führt. Und es kann halt auch nicht immer klappen, denn es gibt halt nach wie vor Idioten – da nützt der größte mentale Feinwaschgang nichts. Da muss man schleudern. Apropos Feinwaschgang: Wenn man es dann so wie ich liebt – um in dem Bild zu bleiben -, die verbale Schleuderzahl hochzudrehen und mal so richtig auf die Kacke zu hauen, auch was manche merkwürdigen Zeitgenossen betrifft, dann wird das mit dem Weichspüler ganz schön schwer bis unmöglich. Ich sage ja auch nicht, dass es schon gelingt und schon gar nicht, dass es immer gelingen muss, sondern nur, dass es hier und da Möglichkeiten gibt. Gerade wenn man so am Anfang des Jahres steht.
In den vielen kleinen Bildern und Sprüchen, die ab dem Silvestermorgen so aufs Handy geflattert kamen, war ein Satz dabei, der sinngemäß hieß: Das neue Jahr wird dann neu, wenn wir es neu machen – fand ich so toll, dass ich es gleich als WhatsApp-Profil genommen habe. Und deshalb arbeite ich jetzt wie verrückt an einem neuen Wort des Jahres. Respekt könnte so ein Wort sein. Mitgefühl. Menschlichkeit. Und Sie so?
Wenn wir ehrlich sind, gibt es wenig Hoffnung, dass am Ende des Jahres die Worte „Liebesmodus“, „Wertschätzungscomeback“ „Hochachtungsvoll“ oder gar „Freudentaumel“ die Liste der Worte des Jahres anführen. Aber wir können dran arbeiten. Die Worte und das, was sie bedeuten, wären es wert.
Foto von Michael Fenton auf Unsplash