Let it be

„Lassen Sie los, was mittlerweile nicht mehr wichtig ist. Sie können sich dann auf Schönes konzentrieren, haben Ideen für die Festtage, und die Stimmung steigt.“ Jetzt mal abgesehen von dem fragwürdigen Komma nach „Festtage“ fand ich dieses Horoskop am Morgen des 23. Dezember dieses Jahres doch sehr passend und vergaß darüber kurz, dass ich mit Frauen bekannt war, die lange Jahre zwischen dem ersten und zweiten Kaffee des Tages solche kleinen Horoskope selbst geschrieben haben. Ich war so gut wie auf dem Weg zur Arbeit, weil ich am Vortrag natürlich nicht fertiggeworden war – Wie auch? Ich werde ja nie fertig! – und überlegte kurz, ob ich meine unerledigten Sachen nicht einfach liegenlassen könnte, weil sie vielleicht nach Deutung des Astrologenteams unwichtig sein könnten. Sollte mich jemand an der Arbeit nach meinem Grund für die Arbeitsverweigerung fragen, könnte ich auf mein Horoskop verweisen, aber ob das bei Kirchens, meinem Arbeitgeber, so gut ankäme, wenn ich ausgerechnet so einen Hokuspokus als Grund für unerledigte Dinge angeben würde? Wohl eher nicht.

Also machte ich mich pflichtschuldig an meinen Schreibtisch und hielt noch auf dem Gang vor meinem Büro erst mal ein Schwätzchen mit der einen Kollegin, die sich freute, so kurz vor Weihnachten nicht allein an der Arbeit zu sein, was sie anfangs wohl befürchtet hatte. Kaum war ich fertig und ging ins Nachbarbüro, um etwas zu klären, wurde ich in ein längeres Gespräch über weihnachtliche Missgeschicke verwickelt. Sein meinem Brotschneidemaschinenunfall im vergangenen Jahr, kurz vor Weihnachten, bin ich dazu ja gewissermaßen Expertin. Wir tauschten uns ein wenig aus, die Zeit verging und ich musste noch kurz zu einem Termin mit einem Lieferanten. Ich kalkulierte dreißig Minuten ein und war kaum anderthalb Stunden später wieder zurück an meinem Schreibtisch. Jetzt konnte ich grade noch die Abwesenheitsnotiz zu Weihnachten einstellen und während ich das tat, wurde mir klar, dass es da nun auch nicht drauf angekommen wäre. Ich hatte gemäß meinem Horoskop fast alles sein gelassen, was ich morgens noch für wichtig erachtet hatte, und gleichzeitig schöne Dinge getan: Kontaktpflege, Zwischenmenschliches. Und was soll ich sagen: Es hat die Stimmung eklatant gehoben. Und was nun noch liegt, liegt auch im nächsten Jahr noch. Vielleicht kann es da sogar weg!

Warum ist das eigentlich so, dass man bis Weihnachten noch schnell alles grade rücken will? Alles erledigen, was man das ganze Jahr über auf dem Schreibtisch, in der Wohnung oder im Keller lustlos von A nach B geschoben hat? Die letzten Wochen fuhr ich jeden Tag an einem Haus vorbei, das verputzt wurde. Die Arbeiter waren sogar am Samstag auf dem Gerüst und heute, heute war es fertig und erstrahlte in sattem Gelb! Da waren wahrscheinlich alle Beteiligten froh, dass es noch bis Weihnachten fertiggeworden ist. Ich selbst habe heute endlich mal wieder fast alle meine Schuhe weggeräumt, die ich im Lauf der letzten Wochen in der Wohnung verteilt habe, die Kaffeemaschine vom Weihnachtsmarkt in den Keller getragen und eine riesige Masse Papier schon mal neben die Tür gestellt. Da ist es bis zum Altpapier ja nicht mehr allzu weit. Und ich kann ja nicht für alles allein zuständig sein.

Aufräumen, Ordnung machen, Dinge beenden – all das scheint zu Weihnachten einem genetischen Plan zu folgen, was mich wiederum auf einen Satz bringt, den ich vorgestern bei unserem Frauencafé aufgeschnappt habe. Da waren nämlich acht von neun Rauhnächte-Expertinnen anwesend. Ich war keine davon. Erstaunt stellte ich fest, dass die Hälfte von uns tatsächlich ihr Haus ausräuchert, um kurz gesagt, altes Gedöhns zu vertreiben. Ich stellte mir kurz meinen Mann vor, während ich mit brennenden Zweigen aller Art durchs Haus rausche, und biss in mein Lachsbrötchen. Zwischen Rührei und Prosecco erfuhr ich, dass die Rauhnächte die Zeit zwischen den Jahren sind, meist gerechnet von Heiligabend bis zum 6. Januar. Sie sind eine Zeit der inneren Einkehr, des Loslassens, der Reflektion und Manifestation, an deren Ende ein Neubeginn steht. Stimmt irgendwie, dachte ich: Die Tage zwischen den Jahren sind bei mir regelmäßig der Zeitpunkt, an dem ich denke, alles könnte anders werden. Besser. Ich könnte strukturierter werden und gleichzeitig achtsamer. Mehr Work-Life-Balance, allerdings bei gleichbleibendem Arbeitsaufkommen. Mehr für mein persönliches Fortkommen tun, ohne irgendetwas von dem zu lassen, was mich derzeit daran hindert. Spätestens hier ist klar, dass die Tage zwischen den Jahren in erster Linie eine Zeit der großen Illusion sind. Aber die Vorstellung von alldem ist einfach schön, und die Idee der Rauhnächte, gehört definitiv dazu. Ich lernte, dass, wer sie zelebrieren will, zuerst damit anfangen muss, aufzuräumen, also richtig. Nicht nur Schuhe weg. Nach dieser Information war ich schon wieder raus. Schön wär’s gewesen. Vielleicht sollte ich direkt nach den Rauhnächten mit den Vorbereitungen für die nächsten Rauhnächte anfangen. Besser wär’s.

Allerdings wären da noch ein paar andere, weniger spirituelle Dinge vorgeschaltet. Sie nennen sich Alltag. Und der geht mit Ausräuchern leider nicht weg. Oder Gott sei Dank. Denn irgendwie hängen wir ja alle an ihm, an unseren Gewohnheiten, den guten wie den schlechten. Den Ritualen. Und deshalb wird jetzt zu Weihnachten ganz bestimmt nirgends aufgeräumt, sondern genossen, geschenkt und – in meinem Fall tatsächlich – ein wenig geschlunzt. Letzteres gehört zwar bisher nicht zu meinen weihnachtlichen Standardritualen. Aber man soll ja auch mal was Neues anfangen. Rauhnächte light, sozusagen.

Und deshalb wünsche ich in diesem Jahr allen, die mir was wünschen und denen ich unbedingt was wünschen will, in erster Linie eins:

Macht’s euch gemütlich!