Jetzt ist er weg

Es war ja klar. Irgendwann würde er gehen. Doch nun, wo es soweit ist, ist es so, als wäre er viel zu kurz bei uns gewesen. Gestern erst geschlüpft und jetzt schon wieder weg. Das Zimmer, das immer so intensiv nach drei Monate ungelüftet durchgezockt gestunken hat, riecht jetzt nach – nichts. Im Nachhinein würde ich sagen, drei Monate ungelüftet durchgezockt ist einer der schönsten Raumdüfte überhaupt, auch wenn es mir gelegentlich nach Beatmungsmaske zumute war, wenn ich das Zimmer betrat. Und jetzt: gähnende Leere. Von zwanzig Jahren Erstgeborenem ist ein Bett geblieben, ein Sofa und ein Klaus-Kinski-Portrait. Warum Letzteres nicht mit in die neue Wohnung gezogen ist, ist mir völlig schleierhaft – wer sollte im studentischen Wohngefühl eine bessere Aura verströmen als die Inkarnation des Hexers und Nosferatus in einer Person?

Was haben wir nicht alles gemeinsam erlebt: erster Zahn, erster Schritt, erstes Wort. Kindergarten, Einschulung, Abitur – flutsch und weg! Ich weiß noch, wie ich in seiner Pubertät darum betete, dass das verschwundene Hirn wieder auftaucht und jetzt, wo es endlich wieder da ist, nutzt er es um zu verschwinden. Ist das vielleicht zu fassen?

Als er noch klein war, war ich immer diejenige, die gesagt hat, mit zwanzig schmeiße ich dich raus. Nun ist er mir zuvorgekommen und wieder einmal zeigt sich: Man soll keine unbedachten Drohungen aussprechen. Am Ende werden sie wahr. Die großen Schuhe neben der Haustür sind verschwunden, der Lieblingsschnuggel liegt unberührt im Schnuggelfach und das abendliche Kochen, das uns mit seinem Töpfescheppern zwischen elf und zwölf in schöner Regelmäßigkeit beim Krimischauen gestört hat, findet nun woanders statt. Ich dachte, es würde mich nerven – im Nachhinein erscheint es mir wie das schönste Geräusch des Tages. Genauso wie die Suche nach meinem ausgeliehenen Autoschlüssel mir mehr und mehr als kleine Alltagsfreude in Erinnerung kommt – wohlwissend, dass ich – stets auf den letzten Drücker unterwegs – jedes Mal schier explodiert bin, wenn er nicht zumindest in der Nähe seines häufigsten Platzes war. Und jetzt? Jetzt ist er aus Versehen mit nach Gießen gereist und ich freue mich, dass er etwas von mir bei sich trägt – als Talisman gewissermaßen in Gießen, diesem Großstadtmolloch, in dem man als Vogelsberger erstmal bestehen muss…

Wenn er nicht anruft, schwanke ich zwischen der Angst, dass er schon untergegangen sein könnte in der oberhessischen Bronx, oder der grauenhaften Furcht, dass er sich am Ende einfach wohlfühlt, wo er jetzt ist. Wohlfühlt – ich glaube ich höre nicht richtig! Wie soll das gehen, wo ich, die sich doch immer hingebungsvoll um ihn gekümmert hat, so weit, so wahnsinnig weit weg von ihm bin? Wie kann der Junge sich da wohlfühlen?

Einsam schleiche ich vor den Veggie-Regalen im Supermarkt hin und her und greife nach Sachen, die er so gerne gegessen hat. Ich stelle sie wieder zurück, er isst ja nicht mehr hier. Den leeren Veggie-Platz im Kühlschrank füllen jetzt wieder Kartoffelwurst und Leberkäse, aber glücklich machen die Fleischwaren mich nicht. Ich kaufe Tortilla-Chips, Dips und Veggie-Gums, damit sich das Kind was mitnehmen kann, wenn es mal zu Besuch kommt – kurz: Ich mache alles, was mich früher, kurz nachdem ich zuhause ausgezogen war, furchtbar genervt hat. Obwohl das natürlich bei mir heute ganz was anderes ist als damals bei meiner Mutter, die sich heute noch beklagt, wenn ich mal drei Tage nicht anrufe. Apropos anrufen: Jetzt hat der Junge sich schon zwei Tage nicht gemeldet, da wird dich nichts passiert sein? Zumal er heute schon zigmal online war, wie ich zufällig, also wirklich rein zufällig gesehen habe. Da hätte er ja wenigstens mal eine WhatsApp schreiben und ein Bild schicken können, oder ist das vielleicht zu viel verlangt?

Wenn mein Drucker im Büro Geräusche macht, für die ich nicht zuständig bin – und das tut er manchmal -, dann ist es mir, als hätte er von seinem Zimmer aus einen Druck gestartet, aber das kann ja nicht sein, er ist ja weg. Wer erklärt mir jetzt, wie es gelingen kann, mit einem Raspberry Pie den Speicherplatz des an ihn verliehenen Notebooks zu erhöhen – von der Rückgabe desselben will ich schweigen. Er möge es behalten und immer an mich denken, wenn er es aufklappt. Und wer repariert meinen Computer, jetzt wo mein IT-Freak ausgezogen ist? Ach so, richtig, hat er ja sonst auch nicht, da kam ja immer der IT-Service. Und wenn ich’s recht bedenke, ist so ein Abend ohne Störgeräusche auch ganz nett. Und meinen Autoschlüssel kann ich auch ganz alleine verschlunzen. Und überhaupt, was ich jetzt jede Woche an Essen und an Wäsche gespart habe…. Nein es ist alles gut! Wirklich. Es sind Freudentränen…

Man bringe mir die Taschentücher und den Rotwein!