Ja, ist denn jetzt schon Weihnachten?

„… also, ich finde mich ziemlich früh heute.“ Das sagte ich, als vor wenigen Tagen im Pilates wieder mal alle sagten „Hallo, Traudi“ und damit meinten, ich sei ja schon wieder ganz schön spät, nur weil sie schon angefangen hatten. Ja, pünktlich. Aber das mit dem Aufwärmen ist bei mir ja nicht so wichtig. Ich bin meistens morgens um sieben schon aufgewärmt, und bis dann um 17 Uhr das Training beginnt, ist meine Betriebstemperatur doch schon ganz schön hoch. Wer mich kennt, weiß: Die Zeit, ihre Schnelligkeit und ihr ewiger Mangel sind mein Thema. Ich will jetzt nicht sagen, mein Problem, denn wir wollen ja wertschätzend und positiv kommunizieren.

Aber weil das so ist mit der Zeit, muss ich jetzt mal auf diesen völlig verfrühten Advent zu sprechen kommen: Also, wenn das mit dem Weihnachtsgedöhne schon im November startet, dann bin ich – ähnlich wie im Pilates – bei den ersten Runden einfach noch nicht dabei: Ich habe heute, am Samstag vor dem Ersten Advent, weder dekoriert noch Plätzchen gebacken. Weniger Weihnachten war nie.

Ich will das jetzt nicht auf die metaphysische Ebene bringen und es mit dieser vermaledeiten WM oder gar dem Krieg in Verbindung bringen. Ich meine damit lediglich, dass der Sommer so lang war, der Herbst so kurz, die Kälte so wenig und das Weihnachtsgefühl bisher einfach so fern.

Was kann man da machen, frage ich mich und lausche verzückt den weihnachtlichen Klängen, die von den Tablets meiner Jungs in schönstem Durcheinander den Raum füllen. „Hallelujah“ und „Mary’s Boychild“ als unfreiwilliger Kanon. Warum denn auch nicht?! Wenn die beiden die letzte Zeit nicht permanent nach Weihnachtsplätzchen, Weihnachtsdeko und Weihnachtsbasteleien fragen würden, hätte ich vermutlich noch gar nicht gemerkt, dass wir in Riesenschritten auf das Fest der Feste zugehen und ich heute zumindest mal den Einkauf für die Plätzchen vorsehen müsste.

Irgendwie komisch, denn ich mache die ganze Zeit schon weihnachtliche Dinge: Wir planen im Team einen Lebendigen Adventskalender, auf den ich mich schon total freue. Wir designen in anderen Teams schon seit Wochen die schönsten Weihnachtskarten (nur meine eigene noch nicht), wie bereiten im Verein den Weihnachtsmarkt auf dem Schlossberg vor und straucheln auf der Suche nach einem Weihnachtsmann oder einer Weihnachtsfrau, denn es gibt tatsächlich Menschen, die einem etwas abschlagen. Wirklich. Bei dieser Gelegenheit fällt mir Nicolas Chamfort ein. Er war französischer Schriftsteller in der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution und offenbar sehr weise, denn er sagte Folgendes: „Die Fähigkeit, das Wort Nein auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit.“ Diese nehmen sich offenbar gerade die Nikoläuse: Just am heutigen Samstag berichtet die Fuldaer Zeitung von einem gravierenden Fachkräftemangel auf dem Nikolaussektor. Auch weil dieser sich nicht für weibliche Führungs- oder überhaupt Kräfte öffnet.

Wo war ich stehen geblieben? Genau, die weihnachtlichen Aktivitäten: Es läuft nämlich auch schon längst die Werbung für meine Weihnachtslesung. Warum also fühlt sich das alles hier noch so unweihnachtlich an? Wo sind sie hingekommen, die ruhigen Winterabende mit Punsch am Kaminfeuer? Die besinnlichen Stunden mit einem Buch auf dem Sofa? Die kuscheligen Strickrunden mit den Freundinnen? Die entspannten Bastelnachmittage mit den Kindern?

Ganz ehrlich: Keine Ahnung, wo sie hingekommen sind. Ich habe nicht mal eine Ahnung, wo diese ruhigen, entspannten Stunden jemals waren. Gibt es sie überhaupt? Oder ist das Bild von Weihnachten, dass wir irgendwie irgendwoher verinnerlicht haben, vielleicht jenes aus der Edeka-Weihnachts-Werbung oder den Hochglanzbildern in den Zeitschriften, die uns wahlweise in perfekt gestylte schwedische Weihnachtswohnungen mitnehmen, die man mir nichts dir nichts zuhause nachbauen kann, oder uns vorgaukeln, dass wir mit guter Planung ganz easy ein Fünf-Gänge-Menü für die ganze Familie und alle Freunde zaubern können und dabei am Fest selbst frisch und strahlend mit fein manikürten Fingern im Pailletten-Kleid am Tisch sitzen und gütig lächeln? Neben blondgelockten Mädchen in Lackschuhen, versteht sich, die sich mit akkurat gescheitelten Jungs in Hemd und Fliege kein bisschen streiten? Zeitschriften, die uns Tipps geben, wie wir die Feiertage und die ruhige Zeit zwischen den Jahren am besten chillen können, wie wir uns täglich mit einer neuen Gesichtsmaske pflegen können und was die besten Kuschelmode für faule Tage ist. Faule Tage. Merken Sie was?!

Immer wenn ich mir diese Heile-Welt-Szenarien anschaue, frage ich mich, was bei mir bisher falsch gelaufen ist an Weihnachten, wo der Chill-und Happiness-Modus sich versteckt und wieso ich auch in meinem sechsundfünfzigsten Lebensjahr noch der Illusion anhänge, wenn erst dies und jenes noch geschafft ist, wird es ruhiger. Es wird nicht ruhiger. Und wissen Sie warum? Weil ich es nicht will. Denn sonst könnte ich ja Nein sagen. Der Adventskalender würde sicher gut ohne mich laufen, der Weihnachtsmarkt im Dorf wahrscheinlich auch. Die Weihnachtskarten würde jemand anders mitmachen. Selbst meine Lesung würde ohne mich laufen, da ich dieses Jahr nicht alleine lese und wieder tolle Musik dabeihabe.

Aber bevor das alles passiert, sage ich lieber wieder Ja. Ja, ich will. Ich will überall mitmachen und auch noch dekorieren und Plätzchen backen. Dort wartet zwar nicht der Chill- aber offenbar mein persönlicher Happinessmodus auf mich. Ich muss es nur einsehen. Und wenn wir für den Weihnachtsmarkt keine rotgewandete Hauptperson finden …. Man weiß ja nie … Zeit für eine kleine Revolution ist immer!