Impfwahnsinn
Die gute Nachricht: Ich hatte letzte Woche meinen zweiten Impftermin. Die schlechte: Ich bin noch kein einziges Mal geimpft. Und das kam so:
Anfang März stellten wir eher zufällig fest, dass wir als Familienkollektiv impfberechtigt sind. Ich begab mich auf die Website des Impfterminservice und füllte viermal und sehr gewissenhaft die nötigen Online-Formulare aus, bekam vier Vorgangsnummern und im Anschluss vier PINS und dachte, nun geht es sicher bald los. In den vier Bestätigungsmails wurde ich darum gebeten, zu warten und von Rückfragen abzusehen. Sie kennen das bestimmt. Schon zehn Tage später kamen wieder vier Mails. Ich öffnete die erste von ihnen ganz aufgeregt, jedoch nur um zu lesen, dass die AstraZeneca-Krise die Impfterminvergabe leider verzögern würde und wir um Geduld gebeten würden. Das fiel mir nicht schwer, denn in der Zwischenzeit hatte ich erfahren, dass an Corona erkrankte und genesene Personen bis sechs Monate nach der Erkrankung warten sollten, bis sie geimpft würden, und dass sie vermutlich nur eine Impfung brauchen. Das wäre dann erst Mitte Mai, dachte ich, und wurde auch dann nicht ungeduldig, als die nächste Priorisierungsgruppe am Impfhorizont erschien. Allerdings wunderte ich mich, dass das sechsmonatige Warten, das mit schweren Nebenwirkungen aufgrund der Infektion begründet wurde, nur für positiv Getestete gilt. Erkrankte, die nicht getestet wurden, haben anscheinend weniger Nebenwirkungen zu erwarten. Ich weiß zwar nicht, wie das wissenschaftlich begründet ist, aber es ist ja schön für die Nichtgetesteten – hoffen, wir dass es stimmt. Kurz bevor die nächste Gruppe impfberechtigt wurde, kamen die Mails mit ganz vielen Anhängen zum Ausdrucken und Ausfüllen und unseren Terminen: die ersten allesamt Ende April, also für zwei von uns gut zwei Wochen zu früh – wegen Corona im November.
„Bitte sagen Sie Ihren Termin rechtzeitig ab, wenn Sie ihn nicht wahrnehmen können. Sie können einen neuen Termin vereinbaren von 8 Uhr bis 20 Uhr unter der Rufnummer 116 117 oder 0611 505 92 888 oder jederzeit online unter impfterminservice.hessen.de.“ Praktischerweise schrieb ich an die Mailadresse und schlug vor, dass wir den ersten Termin wegen Infektion im November absagen müssen, aber gerne den zweiten dann als unseren einzigen nehmen würden. Ich kriegte eine Eingangsbestätigungsmail zu meiner Mail, allerdings keine wie auch immer geartete Antwort bis zu meinem Termin. Also ging ich hin, um die Sache vor Ort zu klären. Im Impfzentrum kam ich bis zur dritten Station, die sich kurz hinterm Eingang befindet, und wurde nach Rücksprache mit wem auch immer in einem geheimen Kämmerlein abgewiesen. Mein Vorschlag, den zweiten Termin stehen zu lassen und einfach als einzigen zu nehmen, stieß nicht auf Gegenliebe; ich solle bei der Impfhotline anrufen. Die erste Nummer (siehe weiter vorne) war nicht zuständig. Die Dame an der zweiten Nummer lauschte mir aufmerksam und gab mir zwei neue Impftermine, da sie nicht wusste, ob ich wirklich nur einen Termin benötigte. Als Grundlage für die komplizierte Berechnung des ersten Impftermins dienten ihr die Daten meines Coronatests, die ich ihr mehrfach durchgab, insbesondere die Feststellung der Erkrankung und das Genesungsdatum. Mein zweiter erster Termin wurde der 18. Mai. (Eine Woche nach meinem ersten ersten Impftermin bekam ich übrigens Antwort von der Hotline, die mir sechs Links zu mehrseitigen PDF-Dateien zur Lösung meines Terminproblems vorschlug, aber das nur am Rande.)
Frohen Mutes betrat ich nun am vergangenen Dienstag das Impfzentrum und brachte es immerhin bis zur vierten Station. Dort musste die Dame hinter dem Schalter sich auch noch einmal Hilfe beim Kollegen holen, der mir kundtat, dass nicht das Erkrankungsdatum maßgeblich sei, sondern das Genesungsdatum, also mindestens zwei Wochen später. Wenn die Dame bei der Impfhotline das nicht gewusst habe, täte es ihm leid, aber die Vorschriften wären so. Ich war, gelinde gesagt, etwas aus dem Häuschen, was der nette Herr durchaus zur Kenntnis nahm und mit einem grandiosen Vorschlag quittierte: Wir könnten ja diesen Termin streichen, und den zweiten, da ich ja ohnehin nur einmal geimpft werden müsse, als einzigen nehmen. Ich war sehr erstaunt, auf was für gute Ideen man im Impfzentrum doch zwischenzeitlich kommt. Und on top darf mein Mann dann Ende Juni gleich mitkommen, sodass wir das gemeinsam machen können. Vielen Dank.
Als ich zehn Minuten später zum zweiten Mal ungeimpft vorm Impfzentrum stand, war ich richtig, richtig sauer. Eine Impfnebenwirkung ganz ohne Impfen, toll, oder? Sauer war ich nicht auf die Menschen dort im Einzelnen, sondern auf das ganze irre System, das sich entwickelt hat und unglaublich blöde Situationen hervorbringt. Bis vor wenigen Tagen, beispielsweise, als noch Ausgangssperre war, hätten mein Mann und ich theoretisch (und nur halb legal) zwar gemeinsam einen Freund besuchen dürfen, und das bis Mitternacht. Aber wir hätten nicht zusammen heimgehen dürfen. Ohnehin wäre es besser gewesen, wir wären dann zeitversetzt gejoggt oder hätten den Hund dabeigehabt, und ich frage mich, wer sich sowas ausdenkt. Wie toll ist das wohl für Frauen, abends zwangsweise allein unterwegs sein zu müssen oder halt daheim zu bleiben? Gestern nun erfuhr ich, dass man in Alsfeld zwar ohne Coronatest in einen Schuhladen gehen darf, aber nur mit Coronatest in der Außengastronomie sitzen darf. Wie der Namen schon sagt, ist die Außengastronomie draußen. Ist das der vielzitierte Impfwahnsinn? Als Person, die an sich geduldig, verständnisvoll und fehlertolerant ist, gelange ich an meine Grenzen und möchte über Dinge, die mich aktuell nichts angehen, etwa die Möglichkeiten von Kindern, im Verein bis zu oder ab welchem Alter Sport zu treiben, weder informieren noch äußern. Sollte ich Planungen für was auch immer haben, informiere ich mich tagesaktuell – die Corona-Regeln sind so flüchtig wie unlogisch.
Während ich auf dem Heimweg vom Impfzentrum im Auto saß, hörte ich Nachrichten aus Indien. Das brachte mich zurück auf den Boden der Tatsachen, wo es zwar zugegebenermaßen völlig irre ist, aber immer noch richtig weich. Und so nehme ich demütig und nur noch leichtgehalst meinen zweiten Impftermin als den ersten und einzigen, versuche, die aus den Erfahrungen resultierenden bad virbrations schon im Keim zu ersticken, und hoffe, dass es wenigstens, wenigstens bald Frühling wird. Denn ich will mich endlich irgendwo draußen hinsetzen, bedienen und bekochen lassen – und dafür lasse ich mich dann auch testen und – wenn es denn endlich so sein wird – auch impfen!