Hütchenspiele

Einmal hätte ich beinahe Günter Wallraff verraten, wo er bei uns in der Küche sein Abendessen findet, und hätte ihn gleich auch noch gebeten, sich doch schon mal bettfein zu machen und frisch geduscht auf mich zu warten. Und das kam so:

Ich hatte den weltberühmten Journalisten kurz vorher interviewt und er verwendete anschließend in der Tat viel Zeit darauf, an dem Ergebnis mit mir herumzufeilen, was im Übrigen sehr viel Spaß machte. An besagtem Tag war ich allerdings in mehreren anderen Missionen unterwegs – in einem Auto einer tollen Freisprechanlage, von der ich immer noch nicht weiß, ob sie mir guttut oder nicht. Auf jeden Fall fuhr ich im Auftrag der Deutschen Knochenmarkspenderdatei, für die ich ehrenamtlich arbeite, zu einem Termin. Ich sollte eine Spende entgegennehmen, einen Blumenstrauß, mich lieb bedanken und auf der anderen Seite des Fotoapparates als sonst nett in die Kamera lächeln. Ich steckte mir mein DKMS-Schild an und tat genau das. Danach fuhr ich weiter zu einem Termin mit zehn Bauunternehmern, die mir in sehr launiger Stimmung – da sie sich untereinander alle kannten – berichten sollten, wie sie gemeinsam ein Riesenobjekt hochgezogen hatten – und das in Rekordzeit. Darüber sollte ich im Auftrag des Bauherrn einen Pressebericht verfassen und war in dem Moment als Traudi Schlitt, die Freischaffende, unterwegs. Auf der Fahrt von hier nach da rief mein Sohn an und fragte, wann ich heimkäme und was es zu Essen gäbe. Ich unterhielt mich eine Weile mit ihm und er legte wieder auf. Kurze Zeit später klingelte erneut das Telefon, ich drückte auf das grüne Knöpfchen und hob schon an zu sagen: „Ich habe es dir doch gerade gesagt: Auf dem Herd stehen noch Reste vom Mittagessen, die kannst du wärmen. Und dann kannst du dich schon mal duschen und bettfertig machen, bis ich komme.“ Schließlich musste ich ja auch noch ein wenig auf den Verkehr und die überall extra für mich aufgebauten Blitzer schauen und hatte gar nicht gesehen, welche Nummer mich da anrief. Glücklicherweise kam mir Günter Wallraff zuvor und teilte mir seine weiteren Anmerkungen mit. Vielen Dank dafür.

Während ich so weiterfuhr, machte ich mir meine Gedanken darüber, wer man so im Lauf eines Tages alles ist: Verknittert und strubbelig steigt man morgens aus dem Bett und muss sich anschließend im Bad furchtbar anstrengen, bis man diejenige ist, die die Leute erwarten, wenn man vor sie tritt. Und das sind im Lauf des Tages ziemlich viele – die Leute und man selbst auch: Die Mutter, die die Kinder weckt und ihnen Brote schmiert, die Berufstätige, die mal hier, mal da arbeitet und überall das passende Gesicht und die richtigen Gesprächsthemen mitbringt, die Köchin, die versucht, in zwanzig Minuten ein einigermaßen passables Essen auf den Tisch zu bekommen, die Ehrenamtliche, die mal eben noch einen Beitrag auf die Website eines Vereins stellt. Wann ist man eigentlich sich selbst, fragte ich mich, oder, um mit dem schönen Philosophen Richard David Precht zu sprechen: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

Jeder von uns tritt doch ständig in irgendwelchen Rollen auf – der Vater, der am Abend in Jeans und T-Shirt in viel zu kleinen Stühlchen im Kindergarten auf dem Elternabend hockt, hat vielleicht am Tag als Unternehmensberater im Designeranzug Millionen bewegt und war zwischendurch nochmal eben ein Tennisspieler. Die Frau, die mich im Krankenhaus eingecheckt hat und mich so freundlich angelacht hat, pflegt vielleicht in der anderen Tageshälfte zuhause ihren kranken Mann, vielleicht stellt sie auch nette kleine Home-Videos ins Netz, um sich ein bisschen was dazuzuverdienen – wer weiß das schon!

„Chapeau!“, sagen die Franzosen, wenn sie jemanden Respekt zollen wollen. „Hut ab“, könnte man auf Deutsch sagen – und manchmal sind das ganz schön viele Hüte, die man so aufhat und abnehmen könnte. Ganz anders das berühmt-berüchtigte Hütchenspiel, bei dem es darum geht, genau aufzupassen, welcher Hut gerade der richtige ist – mit Garantie, dass es am Ende doch immer der falsche ist.

„Chapeau!“, sagen die Franzosen, wenn sie jemanden Respekt zollen wollen. „Hut ab“, könnte man auf Deutsch sagen – und manchmal sind das ganz schön viele Hüte, die man so aufhat und abnehmen könnte. Ganz anders das berühmt-berüchtigte Hütchenspiel, bei dem es darum geht, genau aufzupassen, welcher Hut gerade der richtige ist – mit Garantie, dass es am Ende doch immer der falsche ist.

Als ich schließlich bei meinen Bauunternehmern ankam, setzte ich meinen PR-Tanten-Hut auf und strahlte die versammelte Mannschaft an. Ich war froh, dass ich mein ganz persönliches Hütchenspiel nochmal geradeso klarbekommen hatte und Günter Wallraff nun doch nicht geduscht und bettfein auf mich warten würde.