Heul doch!

„Danke, Frau König“ – mit diesen Worten endete letztens ein „Polizeiruf 1102, und der eher dickfellige Kommissar Alexander Bukow hatte ziemlich gelitten. Ich hatte den Film gar nicht richtig mitbekommen, weil ich erst noch am Schreibtisch saß und dann am Bügelbrett stand, nur den Schluss, und der war wirklich dramatisch. Es ging um einen verlorenen Sohn, und als Kommissar Bukow sich dann eben bei seiner spröden Kollegin bedankte, da liefen mir die Tränen über die Wangen und ich fühlte mit ihm. So wie ich außerdem mit jeder Mutter mitfühle, die im Film von ihrem Kind verlassen oder nach einem Streit umarmt wird, mit jedem Vater, der sich nach einem dramatischen Irrweg für seine Familie entscheidet oder sie schweren Herzens verlässt, und natürlich mit diesen ganzen Paaren aus der Merci-Werbung, die sich für alles, was ihnen Gutes widerfahren ist, mit einer Tafel Schokolade bedanken. Gut, nach zehnmal anschauen hatte ich das dann ein bisschen besser im Griff, aber dann gab es ja auch schon die neue Werbung, die Edeka immer zu Weihnachten bringt, wo der alte Mann, damit er nicht alleine feiern muss, seine ganze in der Welt verstreute Familie zu seiner Beerdigung einlädt. Die stehen dann alle ganz schuldbewusst mit gesenkten Köpfen und schlechtem Gewissen vor dem kleinen Alten und ich heule, was das Zeug hält. Wenn ich dann noch kann, schaue ich hinterher noch „Tatsächlich Liebe“, – da heule ich dann eigentlich von vorne bis hinten, am meisten natürlich in der Szene mit der Musik von Joni Mitchell, in der Emma Thompson klar wird, dass sie nicht die Kette mit dem Herz bekommen hat, und in der anderen Szene, in der Colin Firth – begleitet von dramatischer Orchestermusik – seiner Liebsten in Marseille einen Heiratsantrag macht. Mit Musik ist jede Rührung ohnehin gleich doppelt, ach was, zehnmal so groß.

Früher war das nicht so, da musste ich seltener heulen. Zumindest bei Filmen. Höchstens mal bei „König der Löwen“; als Simba glaubt, seinen Vater auf dem Gewissen zu haben. Oder bei Michel aus Lönneberga, wo er Alfred nach Mariannelund fährt. Das war aber auch ergreifend! Heute sitze ich mit meinen Kindern im Kino und heule Rotz und Wasser bei der unglaublich schlecht erfundenen Geschichte, in der ein Mädchen einen weißen Löwen rettet, während die jungen Leute neben mir fröhlich Popcorn futtern und Cola trinken. Sicher hat es auch damit zu tun, dass das Mädchen seinen Eltern wegläuft und die es dann verzweifelt suchen und der Weg zu dem Mädchen natürlich der Weg zu einem besseren Verständnis füreinander ist. Dramaturgisch abgenutzt, ich weiß, wirkt aber trotzdem. Mir ist das immer furchtbar peinlich. Erst schniefe ich noch so ein bisschen heimlich und wische verstohlen ein paar Tränen weg, aber irgendwann gibt es kein Halten mehr. Dann täusche ich eine spontane Allergie-Attacke vor und zücke meine in weiser Voraussicht massenweise eingepackten Tempos, und irgendwie ist es ja auch eine allergische Reaktion, nämlich auf rührseligen Kitsch, dessen Wirkung ich mich nicht entziehen kann, was das Ganze nicht besser macht.

Wann fing das an? Hatte ich nicht als junger Mensch geglaubt, dass man mit dem Alter abgebrühter wird, sich eher abfinden kann und über das, was man im Überschwang der Jugend und ihrer Hormone noch wie vielfach potenziert erlebt, milde bis ironisch lächelt? Das Gegenteil ist der Fall, und ein Ansatz, den ich in meinen Fachzeitschriften von Brigitte bis Barbara als erstes gefunden habe, ist der, dass man sich immer von dem angesprochen fühlt, was man selbst fürchtet oder was man kennt, was man wahlweise hatte oder nicht hatte, was man zu verlieren glaubt oder gerne fühlen möchte. Sie nennen dieses Gefühl „Sentimentalität“, und dieses Wort ist ja schon echt negativ besetzt, finden sie nicht? Egal. Sentimentalität nähme es nicht so genau mit den Tatsachen. Wenn einen etwas so sehr berühre, dass es einen zum Weinen bringt, dann könne es ohne Rücksicht auf irgendwelche tatsächlichen Geschehnisse eben auch nur ein Gefühl sein, das dadurch in einem geweckt werde. Oder man weine grundsätzlich, also in seinem echten Leben, zu wenig, aber die Tränen müssten ja mal raus.

Jetzt bin ich ja einerseits ganz froh, dass die Handlung des Polizeiruf 110 nichts mit mir zu tun hat, dass aber jeder, wirklich jeder sentimentale Pups in mir solche Gefühle weckt, dass ich mehr oder weniger große Heulkrämpfe bekomme, stimmt mich echt nachdenklich. Wer will schon als Heulsuse durchs Leben gehen? Andererseits: Ich kann auch über jeden Scheiß lachen. Wirklich über jeden. Und das, finde ich, gleicht die ganze Heulerei auch irgendwie wieder aus.

Dennoch: Wenn Sie mal bei uns am Haus vorbeigehen und mich lauthals schluchzen hören, dann gehen Sie einfach weiter, es wird schon nichts passiert sein. Vermutlich schauen meine Kinder nur einen der beiden Mamma-Mia-Filme, bei denen jedes Mal wieder alle Dämme brechen. Im ersten Teil bei der Szene zu dem Song „Slipping through my fingers“, im zweiten Teil bei den Szenen zu den Songs „I’ve been waiting for you“ und „My love, my life“. Und bei allen anderen auch. Wenn Sie mal richtig schön heulen wollen, dann sollten Sie sich diese beiden Gute-Laune-Filme anschauen. Sie werden sich hinterher besser fühlen. Es sei denn, Sie sind durch und durch hartherzig und abgebrüht.