Frühlingsfigur

Neulich wollte ich abnehmen. Natürlich wollte ich nicht wirklich, ich folgte einem äußeren Zwang: Mir war zu Ohren gekommen, dass zwei ältere Damen sich über mein (vielleicht in der Tat etwas zu) Kleines Schwarzes mokiert hatten, es säße wohl etwas schpeng (= oberhessisch für eng, knapp, wurstig, liebe Leserinnen und Leser aus den umliegenden Gebieten). Noch dazu hatte an Weihnachten der Wirt in dem Lokal, in dem ich als Abiturientin mal als Bedienung gearbeitet habe, festgestellt, dass ich mit den Jahren doch etwas fraulicher geworden wäre. Ach ja? Wie ungewöhnlich! Ich schaute ihn wohl ein wenig zu fragend an, jedenfalls fühlte er sich bemüßigt, seine Beobachtung zu präzisieren: „Ich meine, du hast ganz schön zugelegt.“ Frohe Weihnachten auch! Gut, dass ich schon gegessen hatte! Das Schlimmste: Irgendwie hatten die Beobachterinnen und Beobachter recht: Die Hosen vom Vorvorjahr hatten schon vor einiger Zeit das Zwicken angefangen und gaben es auch nach längerem Tragen nicht auf. Konnte es sein, dass ich plötzlich alle meine Klamotten zu heiß gewaschen hatte oder der Trockner Schuld war, wie ich mir gerne einredete? Ehrlich gesagt, nein. Und in der Tat ergab der Test auf einer einschlägigen Webseite, dass sich mein BMI sehr knapp vor der Fettleibigkeit tummelte, wirklich sehr knapp. Das wollte ich dann doch nicht.

Als unser Hund abnehmen sollte, haben wir ihm einfach weniger Futter vorgesetzt, und wenn er uns von seinem nur halbgefüllten Trog ungläubig anschaute, blieben wir hart und appellierten an seine Vernunft. Warum klappt das bei uns selbst nicht, also, bei mir nicht? Ist doch alles reine Kopfsache, oder? Ist es wohl, aber Verzicht, Askese und ich – wir passen einfach nicht so richtig gut zusammen. Aber es half ja nix. Wie gut, dass es gerade Jahresanfang war, und alle Welt sich offenbar dafür interessierte, zumindest die Weihnachts- und Silvesterpfunde wieder loszuwerden: So war die Werbung voll von Pillen, Pülverchen und Shakes, die viele schöne Dinge versprachen: „Leichter und genussvoller abnehmen mit dem Schutz vor überflüssigen Nahrungsfetten.“ Schutz vor überflüssigen Nahrungsfetten war bestimmt genau das, was ich jetzt brauchte. Ein anderes Shakepülverchen warb mit dem Slogan „Gesunder Körper, gesunder Geist!“ und versprach „Abnehmen ohne Hunger, schlechte Laune oder Diätstress“ versprach. Na, dann mal ran den Speck, dachte ich, und bestellte drei große Dosen Abnehm-und-Geistförder-Pulver, die diskret geliefert wurden. Was soll ich Ihnen sagen? Spaß gemacht hat es nicht!

Drei lange Tage gab es nichts als Shakes, während ich für meine Familie das beste Essen kochte. Und natürlich litt ich: Am ersten Abend ohne feste Nahrung hatte ich eine Vereinssitzung, bei der gefühlt alle übriggebliebenen Weihnachtssüßigkeiten samt Nüsschen und Chips auf den Tisch kamen. Ich nahm tatsächlich NICHTS! Am zweiten Abend hatte ich ein Arbeitstreffen, das allen Teilnehmerinnen mit köstlichen Tapas versüßt wurde. Es war hart, sehr hart, aber ich blieb standhaft. Am dritten Tag suchten wir nachts um zwölf noch eine Geburtstagsfeier auf, wo am Büffet noch Schnitzel und gemischte Braten allein auf uns warteten und vermutlich schon viele Stunden lang den Raum mit ihrem himmlischen Duft erfüllt hatten. Ich stand kurz vor der Halluzination, aber ich blieb hart. Während meine Hosen langsam etwas weniger zwickten, befielen mich erste Nebenwirkungen: meine Haare wurden fettig und ich fröstelte ständig – Letzteres für mich ein untrügliches Zeichen, dass ich bald zu den Dünnen gehören würde. Dünn werden allerdings ist kein Vergnügen. Warum ich es vermutlich auch nicht in aller Konsequenz weiterbetrieben habe: Ab dem vierten Tag war eine Mahlzeit erlaubt. Es gab Cordon Bleu. Paniert, mit Bratkartoffeln. Am Tag drauf Lasagne, danach Tortilla Española. Schließlich hatte ich drei Tage gedarbt, jawohl! Wenige Tage später war auch wieder Frühstück erlaubt. Endlich wieder Brötchen wahlweise mit Lachs und Sahnemeerrettich oder mit Fleischsalat vom Metzger meines Vertrauens! Welch ein Genuss! Und jetzt wissen Sie auch, warum Sie nichts von meinen Erfolgen sehen. Sie sind – wie ich – sehr diskret und schon deshalb nicht in verlorenen Kilos auszudrücken, weil ich gar keine Waage besitze.

Und wissen Sie was: ein Leben ohne Waage ist auch schön!