(Fast) Alles neu!

Kennen Sie das?! Wenn alles noch so neu ist, dass man es kaum benutzen mag?

Und wissen Sie noch, wie weh Ihnen die ersten fetten Kratzer auf dem nigelnagelneuen Holztisch getan haben? (Ich schließe jetzt mal von mir auf die Allgemeinheit.) Fast körperlich spürt man es, wenn sich der Kugelschreiber beim schnellen Notieren durch das Papier in die eben noch unversehrte Tischplatte gräbt, oder schlimmer noch, die heiße Pfanne aus der Hand rutscht und eine tiefe Kerbe im jungfräulichen Holz hinterlässt. Danach ist alles nur noch halb so schlimm, wie man weiß, und das ist ja auch sehr tröstlich und erleichert das Leben. Die zweiten, dritten und alle weiteren Kratzer nimmt man kaum noch zur Kenntnis, im Gegenteil: Angeblich freut man sich ja, wenn die Dinge um einen herum von jeder Menge Leben zeugen und mit ihren Bewohner altern, wobei ich insgeheim schon hoffe, dass ich noch nicht ganz so einen verranzten Eindruck mache wie unser Holzfußboden im Wohnzimmer. Ein wenig ungerecht ist es auch, dass man die meisten Dinge, wenn sie ganz und gar unansehnlich geworden sind, ersetzen kann, sich selbst aber und meist auch sein gealtertes Gegenüber behalten muss. Gut, so kleine Einzelteile wie Hüften, Kniegelenke oder Brustimplantate gibt es auch schon mal neu, aber alles in allem müssen wir schon zu den Spuren der Zeit stehen. Was gar nicht so leicht ist, besonders, wenn man sich ansonsten gerade mit richtig was Neuem umgeben hat.

Da war zum einen unser neuer Balkon, dessen Holzbelag fast einen wohnzimmerlichen Charakter aufwies. Sieht man mal davon ab, dass wir den ganzen letzten tollen Sommer ohne Balkon verbringen mussten, war es doch gut, dass der erst kurz vorm Winter fertig wurde. Wir hätten es nämlich unmöglich übers Herz gebracht, hier zu grillen und ihn mit Alkohol- oder gar Brandflecken zu entweihen. Schon die Vorstellung ging gar nicht. Anfangs habe ich nicht mal die Platzdeckchen dort ausgeschüttelt, aber das hat sich inzwischen gegeben. Ich hoffe, dass der Winter nun so ein bisschen Pracht mitwegnimmt, und wir uns im kommenden Frühjahr dann ganz normal auf dem Balkon bewegen können. Nicht, dass wir noch einen Teppich oder sowas zum Schutz kaufen müssen!

Auch ein neues Schlafzimmer gab es gerade noch pünktlich zum Weihnachtsfest. Ein lang gehegter Traum von mir. Vielleicht zu lang gehegt, denn in diesem superneuen, schnörkel- und makellosen Ambiente legen sich nun jeden Abend zwei – schmeichelhaft ausgedrückt – mittelalte Körper in ausgebeulter Schlafwäsche ins Designerbett und vernichten damit das schöne Hochglanzbild, das sie selbst erschaffen haben. Aus einem Katalog für „Schöner Wohnen“ würden wir mit Sicherheit wegretuschiert. Auch keine schöne Vorstellung. Im Bad geht es weiter. Hier prunkt seit wenigen Wochen ein Super-Duper-Spiegelschrank mit Maximalbeleuchtung und superhochauflösendem Kosmetikspiegel. So etwas hatte ich bisher nicht besessen, was mir im Nachhinein auch sehr sinnvoll vorkommt. Ich weiß nämlich wirklich nicht, ob man sich so etwas in unserem Alter noch antun muss!

Wie dem auch sei, es wird ja nicht besser, nur weil man es nicht sieht. Im Gegenteil. Vor wenigen Tagen habe ich mir vor diesem Spiegel das erste Nasenhaar meines Lebens gezogen. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass ich so etwas habe. Auch was Neues, wenn auch wenig glamourös. Und habe ich nicht vorhin tatsächlich doch ein graues Haar aufblitzen sehen? Auch die Illusion, ich hätte für mein Alter ja noch eine ganz gute Haut, verschwindet vor dem schönen neuen Spiegel. Gut, dass ich bei den Umräumarbeiten ein einst versehentlich gekauftes (!) straffendes Serum gefunden habe, das die Zeichen der Hautalterung vermindert. Das benutze ich jetzt jeden Tag. Sieht man schon was?!

Ob ich nun doch langsam Probleme mit meinem Alter habe, fragen Sie. Nein, eigentlich nicht, nur mit meinem neuen Spiegel.