Eine königliche Handtasche
Betty war todmüde, als sie am Nachmittag endlich den Pub putzen konnte. Die ganze Nacht bis weit in den Vormittag hinein hatten die Menschen gefeiert – im Pub „The Royal Secret“ waren die Leute gekommen und gegangen, hatten getanzt, gelacht, sich umarmt, getrunken und gesungen. Eine Nacht lang ausgelassen sein – sie alle wussten, dass die Zeiten nun zwar besser, aber noch lange nicht gut sein würden. Es war der 8. Mai 1945, und die ganze Welt feierte den Sieg über Hitlerdeutschland. Die Engländer hatten der Rede ihres Königs George VI. gelauscht und ergaben sich einem kurzen Rausch der neuen Freiheit. Nun, am Nachmittag, war es wieder ruhiger geworden, selbst in London. Die Überreste der Friedenspartys vermischten sich in den Straßen mit denen der Bombenabwürfe: Zerstörte Häuser, Schutt und Trümmer, über denen Luftschlangen hingen, dazwischen zahllose leere Bier- und Weinflaschen. Betty betrieb den Pub mit ihrer Mutter Angela. Sie war in dem Haus in der Corgy Street aufgewachsen und die Arbeit zwischen Theke, Tischen, Gläsern, Flaschen, Chips und Sandwiches gewohnt. Ihr Vater Albert hatte den Krieg nicht überlebt, ihre ältere Schwester Maggie war in Bristol verheiratet. Für sie selbst schien es nur den Pub zu geben. Im vergangenen Jahr hatte sie einen Soldaten geküsst, Philip. Er erschien ihr traurig und irgendwie heimatlos, und auch sie sah ihn nach dieser Nacht nie wieder. Wie durch ein Wunder war ihr Pub von schlimmen Schäden verschont geblieben, aber er hatte bessere Zeiten gesehen, das auf jeden Fall. Aber während des Krieges waren nur ab und zu ein paar Gläser aus den Regalen gefallen, wenn es rundum krachte, aber was war das schon im Vergleich zu den anderen Verwüstungen und Verlusten, die die sie alle ertragen mussten?
Ein wenig hatte Betty sich gewundert, dass die Menschen vor all diesen Erfahrungen so ausgelassen feiern konnten, wie sie es in der vergangenen Nacht getan hatten. Ihr Pub war ständig überfüllt gewesen; viele der Gäste kannte sie, sie kamen aus ihrem Viertel, aber es waren auch welche dabei, die einfach durch die Nacht streiften und da und dort einkehrten. Eine junge Frau war ihr aufgefallen. Sie durfte etwa in ihrem Alter sein. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich üblicherweise in Pubs herumtreiben. Sie hatte so was Edles an sich, war perfekt frisiert und trug ein schönes rosafarbenes Kostüm mit passenden Handschuhen und einer passenden kleinen Handtasche. Ein Flieger, offensichtlich ihr Freund, ließ sie nicht aus den Augen. Sie wiederum schien irgendjemand anderen zu suchen, durchquerte den Pub dreimal in alle Richtungen und kam fast verzweifelt zu ihrem Freund zurück. Der Pub war übervoll, dauernd stieß sie mit anderen zusammen, die Biere schwappten über, einmal wurde sie fast umgeschubst und konnte sich grade noch an irgendwem festhalten. Dann hatte Betty die schöne Frau und den Flieger aus den Augen verloren. Wie mochten sie wohl die Nacht verbracht haben? Was mochten sie erlebt haben und wie wird ihr Leben wohl weitergehen?
Betty liebte es, sich solche Gedanken über die Menschen zu machen, die sie flüchtig traf. Gerade wenn sie im Pub so vor sich hin putzte, Scherben wegfegte, Aschenbecher leerte, ließ sie ihren Gedanken gerne freien Lauf. Als sie schon fast fertig war und die ersten Männer schon wieder für ihren Nachmittags-Pint an der Theke Platz genommen hatten, sah sie es hell unter einer der hintersten Bänke hervorblitzen. Sie bückte sich und musste sich weit strecken, um das kleine rosa Bündel von dort hervorzuholen. Obwohl sie feststellen musste, dass in dieser Ecke des Pubs wohl eher selten bis gar nicht gefegt oder geputzt wurde, was sie sich direkt als nächste Aktion vornahm, war das Bündel, das sich als schickes Abendtäschchen entpuppte, kaum dreckig. Ein besonderer Glanz schien von ihm auszugehen. Betty hatte das feine Etui schon einmal gesehen – in der vergangenen Nacht am Arm der schönen Frau, die nicht in den Pub zu passen schien. Sie hatte in all dem Getümmel wohl ihre Tasche verloren und dann hatten die Menschen sie wohl immer weiter getreten, bis sie schließlich in dieser hintersten Ecke gelandet war. Was war wohl darin? Und hoffentlich war nichts kaputtgegangen. Als Betty nachschauen wollte, merkte sie, dass sie unruhig wurde. Es war anders als neugierig. Es war so ein aufgeregtes Kribbeln. Dann öffnete sie die Tasche. Der Verschluss klackte und gab nach. Betty fand lediglich ein Taschentuch mit feiner Spitze, bestickt mit den Initialen „ER“ (E steht für „Elisabeth“, R für „Regina“, das lateinische Wort für Königin) und einen Lippenstift. Eine Handtasche ohne Geld, ohne Schlüssel, ohne Ausweis? Und dann wurde ihr schwindelig.
Im Buckingham-Palast herrschte – man durfte es wohl so nennen – schlechte Stimmung. Die Prinzessinnen Margaret und Elisabeth hatten sich am Abend zuvor die Erlaubnis erbettelt, diese eine besondere Nacht im Königreich auszugehen. Sie wollten sich unters Volk mischen, feiern, sehen, was die Menschen bewegt. All das hatten sie ihren Eltern König George und Königin Elizabeth gesagt, um ihre Zustimmung zu erhalten, aber eigentlich wollten sie nur einmal so sein wie alle jungen Mädchen: Sie wollten ausgelassen tanzen, unerkannt bleiben und einmal, einmal nur frei sein. Für die königlichen Eltern war das keine so gute Idee gewesen: Sie stellten den beiden jungen Damen zwei Aufpasser zur Verfügung, doch die ließen sich bald ablenken von den vielen Möglichkeiten dieser Nacht und verloren ihre Schützlinge bald. Und dann lief alles furchtbar aus dem Ruder: Margaret folgte dem erstbesten Offizier von einer Party zur nächsten und Elisabeth versuchte verzweifelt, ihr zu folgen und sie unbeschadet und vor allem pünktlich wieder nachhause zu bringen. Dass sie weder praktische Kenntnisse im Busfahren hatte noch einen Penny Bargeld besaß, erwies sich als hinderlich, rief aber Jack auf den Plan, einen jungen Flieger, er sich ihrer selbstlos annahm. Erst am nächsten Morgen kamen die beiden jungen Frauen zurück – und so sehr sich die Eltern auch freuten, war doch eine gewisse Verstimmung wahrzunehmen. Not amused, würde man sagen. Ganz abgesehen davon hielten sie auch Elisabeths Freund Jack nicht für standesgemäß, was die zukünftige Regentin wusste und einsah. Schließlich wurde sie seit langen Jahren auf ihre Rolle als Königin vorbereitet. Gleichzeitig war den beiden Prinzessinnen auch klar, dass diese Nacht ihre einzige Nacht in Freiheit bleiben würde. „Wenn es doch eine Möglichkeit gäbe, frei zu sein, zu tun und zu lassen, was ich möchte. Nicht immer, nur manchmal so eine Nacht wie diese“, seufzte die junge Thronfolgerin und sank in einen tiefen Schlaf.
Im Traum fand sie sich wieder in der vergangenen Nacht. Sie spürte aufs Neue die Aufregung und das Prickeln, aber die Sorge um ihre Schwester war verflogen. In dem Pub, in dem sie als erstes mit Jack gelandet war, herrschte gähnenden Leere, nur zwei ältere Männer saßen am Tresen. Aber sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft – es ging um die Rede des Königs, die anlässlich des Sieges am Vorabend im ganzen Land ausgestrahlt worden war – und beachteten die junge Frau in dem schönen rosa Kleid nicht. Hinter der Theke stand eine Frau, die in ihrem Alter sein durfte, in der Hand hielt sie Elisabeths Handtasche. Als Betty aufschaute, war der Schwindel verflogen. „Hier, deine Handtasche“, sagte sie zu Elisabeth und hielt sie ihr hin. In dem Moment, als Elisabeth nach ihrer Handtasche greifen wollte, durchzuckte es die beiden Frauen. Es schepperte ein wenig in dem alten Pub und die zwei Männer sahen kurz auf. Hinter dem Tresen stand Betty und schaute sie irgendwie seltsam an. „Noch zwei Pint“, knurrte der eine vor sich hin, und Elisabeth schaute ungläubig auf die alte Zapfanlage. Sie hatte diese noch nie zuvor berührt, aber instinktiv ließ sie zwei Gläser volllaufen, streifte den Schaum ab und stellte sie den Männern hin. Sie fühlte sich merkwürdig in Bettys alten Kleidern und schaute sich nach der jungen Wirtin um. Keine Spur von ihr.
Diese erwachte in überraschend weichen Federn, wohlriechend und seidig. Ihr Zimmer hatte große Fenster, die zu einem weitläufigen Park zeigten. Als sie aus dem Bett stieg und an sich herunterschaute, erkannte sie nicht, was sie trug – einen Pyjama, auf dem kleine Jagdszenen spielten -, aber es war bequem und fühlte sich gut an. „Gleich kommt der Außenminister zum König, Ma’am“, hörte Betty eine freundliche, aber bestimmte Stimme sagen. „Dafür, dass Ihr gleich dabei sein werdet, seht Ihr noch sehr derangiert aus.“ Betty schaute in den Spiegel. Abgesehen davon, dass sie plötzlich aussah, wie die junge Frau im Pub, fand sie sich nicht sonderlich derangiert, aber ihre Hofdame und zwei Zofen hatten schon Hand angelegt, schubsten sie in die Badewanne – eine wirkliche Badewanne mit warmem Wasser und duftendem Schaum -, halfen ihr heraus, hielten ihr frische Wäsche und ein feines Cocktailkleid hin und frisierten ihre dunklen Locken. Nur dreißig Minuten später sah Betty aus wie aus dem Ei gepellt und saß gemeinsam mit dem König hellwach und gut informiert mit perfekten Umgangsformen dem Außenminister gegenüber. Es gab viel zu besprechen.
Der Nachmittag verflog, es wurde Abend und Nacht. Elisabeth schlug sich tapfer in dem Pub, schäkerte mit den Männern und strahlte vor Glück, als Jack durch die Tür trat. Allerdings erkannte er sie nicht – schließlich konnte er ja nicht wissen, dass sie es war, die als Betty hinter dem Tresen stand. Doch aus irgendeinem Grund fühlte er sich von der Wirtin angezogen und blieb bis zur Sperrstunde um elf, um sich mit ihr zu unterhalten, wann immer der Betrieb es zuließ. Betty hingegen streifte nach dem Termin mit dem Minister durch den Palast. Die kleine Betty Moore im Buckingham Palast! Sie wunderte sich nicht mal. Alles schien seine Richtigkeit zu haben. Dennoch verlief sie sich schneller, als sie schauen konnte, und war bald in einem Turm, in dem eine Treppe nach oben führte. Es war ganz ruhig im Schloss, alle schienen zu schlafen, als es von Big Ben her Mitternacht schlug. Aus einem kleinen Fenster hinaus blickte sie über die ganze Stadt. Auf einmal befiel sie eine merkwürdige Unruhe und sie setzte sich auf eine Bank, die mitten in der Turmstube stand und die sie beim Eintreten nicht gesehen hatte. Darauf lag eine wunderschöne Damenhandtasche – auch die hatte sie wohl zuvor übersehen. Mit dem letzten Schlag ging ein Raunen durch den Raum und Betty war nicht mehr allein. Elisabeth saß bei ihr. Die beiden jungen Frauen fühlten eine tiefe Verbundenheit. Gleichzeitig wussten sie, dass sie nur kurz Zeit haben würden, um sich abzusprechen. Elisabeth hielt ihre Abendtasche in Händen, Betty eine kleine, feine, weiße Unterarmtasche. Plötzlich war es beiden klar: Sobald eine von ihnen ihre jeweilige Zaubertasche öffnen würde, könnten sie bis zur nächsten Mitternacht die Räume und die Körper tauschen. Elisabeth könnte frei sein, gewöhnlich, eine junge Frau wie tausend andere, mit neuen, ganz neuen Erfahrungen. Und Betty könnte sich erholen von ihrem harten Alltag, sich ein wenig hegen und pflegen lassen und jede Menge lernen. Wie alte Freundinnen lagen sie sich in den Armen und schworen sich, ihren Zauber nie zu verraten und nie auszunutzen. „Einmal in der Woche du, einmal ich – und nur wenn wir wollen“, flüsterten sie sich zu, als Big Ben ein Uhr nachts schlug und ihre Wege sich wieder trennten. Betty erwachte am nächsten Morgen in ihrem Holzbett mit der Pferdedecke, Elisabeth in ihrem lichtdurchfluteten Palastzimmer mit Blick zum Park.
Niemand weiß, was in dieser besonderen Nacht geschehen ist, als Her Royal Highness ihre Tasche in dem schmuddeligen Pub vergessen hatte. Niemand weiß von dem stillen Abkommen der beiden Frauen, das bis zum heutigen Tag hält. Gemeinsam gingen sie durch die Jahre, die Jahrzehnte. Heirateten ihre Männer, Jack und Philip, bekamen ihre Kinder und Enkelkinder. Eine wurde Königin und die andere Besitzerin eines Pubs, der schon seit ewigen Zeiten den Namen „The Royal Secret“ trägt. Fest steht: Beide genießen bis heute ihre kleinen Fluchten und ihre gemeinsamen Mitternachtsstunden im Turm des Buckingham Palasts, wo sie sich treffen, bis Big Ben mit dem ersten Glockenschlag des Tages den Abschied verkündet. Sie erzählen sich ihre Erlebnisse und ihr Leben und keine möchte mehr ohne die andere sein.
Und so kann niemand genau sagen, ob es wirklich die Queen ist, die mit ihrer Handtasche auf Schloss Bellevue den Bundespräsidenten beehrt oder in Versailles mit dem französischen Präsidenten diniert. Und niemand weiß, ob er nicht vielleicht in einem nun nicht mehr ganz so schmuddeligen Londoner Pub von einer veritablen Königin sein Bier bekommt – auch wenn die nun schon ganz schön bei Jahren ist und die Pubgeschäfte an ihre Tochter und ihre Enkeltochter weitergegeben hat.
Was wir nun aber ganz sicher wissen, ist warum die Queen immer eine Handtasche dabeihat. Und wir können bedenkenlos zustimmen, wenn es heißt, dass die richtige Handtasche das Leben verändern kann.