Ein Land fährt runter

Als ich Anfang der Woche ungefähr 30 Termine bis Ende der Osterferien löschte, merkte ich schon, das wird ernst. Nicht nur insgesamt, sondern auch für mich. Da war ich noch der Meinung, dass ich natürlich weiterhin meine Freundinnen würde treffen können – etwas das heute, am Frühlingsanfang, schon gar keine und gar keiner mehr will. Jedenfalls nicht die Vernünftigen. Der Frühling startet ohne Publikum. Unseren Freitags-Aperol, den wir sonst in meinem Lieblingsladen zwischen den neuesten Kleidern und Accessoires einnehmen, zeigten wir uns via WhatsApp, aber ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten Wochen, die es mit Sicherheit noch braucht, bis das „Social Distancing“ gelockert wird, uns technisch soweit professionalisiert haben, dass wir uns per Skype zuprosten. (Wie schön übrigens, dass man schon gleich einen wohlklingenden Namen dafür gefunden hat, wobei ich dann schon eher für „Physical Distancing“ oder „Solidary Distance“ wäre, aber egal, Hauptsache, es klappt, denn es fällt schwer. Mir zumindest. Noch vor wenigen Wochen habe ich über die große Bedeutung von Umarmungen geschrieben und jetzt will ich eigentlich nicht mal mehr meine Kinder drücken, obwohl es mir das Herz zerreißt.)

Andererseits hat dieser Zustand ja auch seine Vorteile: Es wird zu weniger sexuellen Übergriffen kommen, denke. Und ja, der Umwelt tut die Du-weißt-schon-Krise ja auch merklich gut. Aber an sich ist sie Scheiße. Das wissen wir alle. Vermutlich ist auch das Grund, dass immer noch, IMMER NOCH, so viel Klopapier gekauft wird. Mehr will ich dazu nicht mehr sagen, nur so viel: Bei Aldi hatten sie heute die gähnende Leere in den entsprechenden Regalen mit Wein und Sekt gefüllt… Das eine kann das andere zwar nicht unbedingt ersetzen, aber doch über das Gröbste hinweghelfen.

Ein großes Problem in dieser Krise ist ja auch, dass wir offenbar nicht nur auf soziale oder physische Nähe verzichten müssen, sondern auch auf Intelligenz (Stichwort: „Absent Intelligence“), wie man an den Hamsterkäufern und den Uneinsichtigen sieht. Ich bin ja immer eher guter Hoffnung. Also, ich hoffe zum Beispiel unbeirrbar, dass wir diese Zeiten hier möglichst alle gut überstehen und dass die Medizin und die Forschung uns retten können. Ob die Wissenschaftler allerdings noch ein Kraut für gesunden Menschenverstand entdecken, wage ich zu bezweifeln und bin da ganz einer Meinung mit Herrn Einstein. Aber nur, weil er sich seinerzeit so verständlich ausgedrückt hat und auf Formeln und Zahlen in seiner Darstellung von der Unendlichkeit der menschlichen Dummheit verzichtet hat.

So, und jetzt müssen wir alle chillen. Viel Zeit, hoffentlich bei voller Lohn- und Gehaltsfortzahlung, und wenig Möglichkeiten. Da wird man ganz schön auf sein engstes, sein familiäres Umfeld reduziert, und man weiß ja von der horrenden Scheidungsrate nach dem Sommerurlaub, dass das nicht immer gut ist. Bei uns zum Beispiel läuft jetzt den ganzen Tag Schlagerradio. Stellt sich die Frage, wie lange ich das ertrage, falls ich wirklich mal aufhören muss zu arbeiten. Mein Mann plant ein mehrstündiges Seminar im richtigen Einräumen der Spülmaschine und die Auswahl des Publikums liegt auf der Hand. Ich gehe allen mit meiner We-Shall-Overcome-Gute-Laune auf die Nerven. Außerdem frage ich mich bei jedem Schweißausbruch, ob das noch die Wechseljahre sind oder doch schon das Virus ist. Kling der Husten meines Mannes noch allergisch oder brandgefährlich, und müsste ich nicht doch nochmal schnell googeln, ob Halsschmerzen ein Symptom sind?

Wenigstens habe ich Glück, ich darf noch arbeiten. Das können ja nicht alle von sich sagen. Sie müssen sich der häuslichen Quarantäne weitgehend ergeben und sich die Zeit in den vier Wänden vertreiben. Wenn die dann dicht besiedelt sind und man sich als Familie nicht so sehr aus dem Weg gehen kann, ist das schon schwierig. Dann ist es nicht schlecht, so zu wohnen wie wir. Auf dem Land, in einem Haus mit Garten und mit Hund. Da darf man ja angeblich öfter raus, auch wenn’s ganz ernst wird. Und wenn nicht: Ich traue es mich ja kaum zu sagen, aber so rein von dem was ich zu tun hätte, also vom Dachboden über mein Homeoffice, meine Abstellkammer, die Kleiderschränke und die drei Kellerräume, wäre ich für eine längere Ausgehsperre zumindest beschäftigungstechnisch gut gewappnet. Ich sehe schon, wie sich Woche für Woche die Mülleimer der Nation füllen (Danke, liebe Müllfahrer!) und nach diesen ansteckenden Zeiten Haus- und Dorfflohmärkte das unter die Leute bringen, was der Sperrmüll nicht mitgenommen hat. Vom Boden unseres Dachbodens wird man essen können, und ja, ich könnte mir vorstellen, auch meinen total vertrockneten Brautstrauß zu entsorgen und einzusehen, dass ich in die Motorradjacke von vor zwanzig Jahren nicht mehr reinpasse. Kann alles wech!

Ein Land fährt runter, und natürlich hoffe ich, dass wir auch wieder hochfahren können, wenn man sich auch fragen muss, ob das Niveau vor der Krise wirklich gesund war, oder ob es uns dieses Niveau erst ermöglicht, diese Krise vielleicht zu überstehen, ohne zu verarmen. Sicherlich werden viele von uns die Zeit nutzen, um hier und da aufzuräumen und sich vielleicht von wirklich Überholtem zu trennen. Vielleicht aber auch, um Altes wieder hervorzuholen. Ich zum Beispiel nutze diese terminlose Zeit, um jeden Tag mindestens zwei Leute anzurufen und mit ihnen ein Schwätzchen zu halten. So etwas in der Art hatte ich mir ohnehin für dieses Jahr vorgenommen, aber nicht umgesetzt. War halt immer so viel los…. Vielleicht also ist es genau jetzt möglich, Dinge zu tun, die man längst aufgeschoben hatte. Die meisten von uns sind ja nicht arm, sondern müssen nur zuhause bleiben. Wir könnten unsere Kochgewohnheiten umstellen und uns mit neuen, gesünderen Rezepten befassen. Also, ich könnte das. Ich könnte an vielen, vielen Webinaren teilnehmen und ich könnte einen Bruchteil meiner ungelesenen Bücher lesen. Und meine Wollreste verstricken. Und mein neues Buch starten. Es darf nur keine Kaffeekrise geben… Und auch das kann ich nur in der Gewissheit sagen, dass wir trotz allem nicht Not leiden werden.

Wer schon mal in einer tiefen Krise war, der weiß, dass man sie nur tageweise durchleben kann und sich nichts so sehr zurückwünscht wie seinen Alltag. Alles soll so sein wie es vorher war. Mit ein bisschen Glück aber wird nach so einer Krise aber doch manches auch ein wenig anders. Besser. In diesem Fall könnte Folgendes eintreten: Die Natur wird sich ein wenig von uns erholt haben, und vielleicht fällt uns ja ein, wie wir mit ein bisschen weniger Zurück-zum-letzten-Stand dazu beitragen können, dass es ihr grundsätzlich bessergeht. Vielleicht setzt eine Stadtflucht ein, weil sich herumspricht, dass man in der Krise auf dem Land besser dran ist. Sehr wahrscheinlich wird es so um die Weihnachtszeit herum und Anfang nächsten Jahres einen neuen Babyboom geben und die Mädchen unter ihnen werden vermutlich als zweiten Namen den eines mexikanischen Bieres tragen und die Jungs Jens und Christian heißen. Hoffentlich, hoffentlich wird alles gut.

Als ich unter dem Begriff „Stillstand“ nach einem Bild für diese Kolumne gesucht habe, kamen tausend Karten mit Sprüchen wie „Stillstand ist Rückschritt“. Vielleicht können wir uns von diesem Mantra lösen. Vielleicht kann Stillstand uns weiterbringen. Im Moment auf jeden Fall kann er Leben retten.