Eigentlich …

„Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.“ Natürlich ist dieser schöne Ausspruch nicht von mir, leider, leider! Ödön von Horváth hat ihn in seiner Komödie „Zur schönen Aussicht“ einer gewissen Ada Freifrau von Stetten in den Mund gelegt, die mir allein aus diesem Grund schon sympathisch ist. Hätte der Dichter dies nicht getan, könnte dieser Satz durchaus von mir sein – sofern ich drauf gekommen wäre -, denn eigentlich bin ich auch ganz anders.

Eigentlich bin ich nämlich ordentlich und gut organisiert, auch wenn ein Blick auf meinen Schreibtisch einen anderen Eindruck vermittelt. Ich komme nur nicht dazu aufzuräumen, weil dauernd was anderes ist. Und eigentlich weiß ich auch, dass so ein Tag nur 24 Stunden hat, aber was, wenn der Tag das nicht weiß? Und eigentlich bin ich auch immer ruhig und gelassen, allerdings nicht, wenn die Umstände es nicht zulassen. Und weil das eigentlich alles immer so ist, will ich zum neuen Jahr eine Lanze brechen für ein völlig zu Unrecht verpöntes kleines Wort, das in seiner Eigenschaft als Adverb eigentlich zutiefst menschlich ist und dem Unperfekten im Leben eine Ausdrucksmöglichkeit verleiht. Und die braucht man doch unbedingt! Denn natürlich weiß man immer, wie es eigentlich sein müsste, obwohl es dann doch nicht so ist.

Viele meiner Bekannten, viele Coaches und Berater plädieren vehement dafür, das Wort „eigentlich“ aus seinem Wortschatz zu streichen. Stets mildere es ab, was man eigentlich (!) sagen wolle, es nehme der Aussage die Klarheit, die Bestimmtheit. Außerdem seien es gerade Frauen, die –stets um Harmonie bemüht, wie sie nun mal sind – dann doch lieber nicht so ganz vehement auftreten und so ein verschüchtertes „Eigentlich wäre es mir anders lieber“ hinhauchen. Das ist natürlich blöd, sehe ich ein. Und in der Tat sollte man klar sein, wo man klar sein will: „Das ist mir anders lieber!“ Aber in vielen Dingen ist das Leben einfach nicht klar und eindeutig. Da ist es eben eigentlich so, aber eigentlich auch so, wenn Sie wissen, was ich meine.

Gerade an den vergangenen Feiertagen konnte man wieder sehen, wie wichtig dieses Wort für das gesamte menschliche Zusammenleben ist. „Eigentlich wollte ich ja nicht mit meiner ganzen Familie Weihnachten feiern“, hieß es da (nicht bei mir, wohlgemerkt), „aber dann saßen wir doch wieder alle bei meinen Eltern im Wohnzimmer.“ Was vermutlich zumindest die Eltern gefreut haben dürfte, und da kann man eigentlich auch mal was machen, was man eigentlich nicht will. „Eigentlich wollte ich heute Abend ja mal auf der Couch bleiben.“ „Eigentlich bin ich ja Vegetarier.“ „Eigentlich habe ich ja genug Handtaschen.“ „Eigentlich wollte ich ja mehr Sport machen.“ Aber dann hat es eben doch nicht geklappt…

Jetzt werden natürlich alle Selbstoptimierungsexperten rufen: „So geht das nicht! Wenn man schon gleich ‚eigentlich‘ sagt, zeigt man nur, dass man es nicht ernst meint, nicht mal vor sich selbst.“ Mag sein, aber so sind wir eben. Manchmal schwach. Ich zumindest, und ich hoffe, die eine oder der andere da draußen auch. Fast niemand kommt an diesem Wort vorbei, außer er nimmt es sich ganz fest vor. Und selbst dann ist es schwierig. Synonyme gibt es ja genug: „Im Grunde“, „an und für sich“, „gewissermaßen“… Ich glaube ja, dass das Wort „eigentlich“ nur deshalb so unbeliebt ist, weil es uns ständig vor Augen führt, was wir eigentlich sollten – warum wir das auch immer glauben -, aber letztlich nicht tun oder sind. Nicht immer konsequent, nicht immer fleißig, nicht immer umweltbewusst, nicht immer fair, nicht immer toll. Und deshalb mag ich „eigentlich“ eigentlich. Es ist so nett zu mir und meinen Fehlern.

Wenn dann allerdings Sätze mit „Eigentlich habe ich ja nichts gegen Ausländer, aber,…“ oder so ähnlich anfangen, kriege ich eine ernsthafte Krise mit diesem Wort und schließe mich jeder Kritik daran gerne an. Aber Blödheit kann man ja nicht mit einem einzigen Wort ausrotten, leider. Sonst würde ich drauf verzichten. Ehrlich.

Allerdings würde mir etwas fehlen, und daher heißt es hier ab sofort: Eigentlich!

Völlig uneigentlich, also bestimmt, klar und mit Nachdruck, Ihnen allen ein tolles neues Jahr!