Eigentlich Pfingstmarkt

Eigentlich hätten wir Alsfelder uns an diesem Wochenende fast alle auf dem Pfingstmarkt getroffen. Am Freitagabend hätten wir ihn gemeinsam im Festzelt eröffnet. Wir hätten dicht gedrängt Fassbier aus schlecht gespülten Gläsern getrunken und geglaubt, ein Herpes sei die einzig ernsthafte Bedrohung daraus. Teile unserer Familie hätten mit ihren Kolleginnen und Kollegen die Musik dazu gespielt und sehr wahrscheinlich überdurchschnittlich viel Bier getrunken (überdurchschnittlich für einen normalen Freitagabend, nicht jedoch den Eröffnungstag des Pfingstmarktes). Andere Teile von uns hätten schon die ersten begeisterten Runden im Autoscooter gedreht und danach im Festzelt das Tanzbein geschwungen. Der letzte Teil von uns hätte über all dem gewacht und geschaut, dass trotz der Ausgelassenheit und des erhöhten Alkoholkonsums alle wohlbehalten nachhause kommen. Die Aufsichtsbehörde in meiner Person hätte sich auf einen späteren Abend mit Livemusik gefreut und einen feuchtfröhlichen Abschluss am Dienstag – bei strahlendstem Sommerwetter, wie wir heute wissen!

An den vielen Wochenenden und Feiertagen zuvor hätten wir kleine Reisen gemacht – tatsächlich standen Prag, Berlin, Dresden und Paris auf unserem Frühlings-Reisezettel; in unterschiedlichen Besetzungen. Es wären Familienfeste gewesen, Konzerte, Theaterbesuche, Vereinsjubiläen, Frühschoppen, Lesungen – ganz viele Grillpartys. Tausend Dinge, die man nicht zoomen, skypen oder facetimen kann, wie uns schmerzlich bewusst wurde. Und was haben Sie so vermisst?

Natürlich kann man jetzt sagen, wir haben es uns trotz allem schön gemacht – also, wir haben das wirklich. Wir haben aufgeräumt und renoviert, wir haben in Minikreisen zusammengesessen – und, das muss man ja heute immer dazusagen – überall den „gebührenden Abstand“ eingehalten (zumindest da, wo es ging…). Wir haben uns gefreut, dass wir alle gesundgeblieben sind und ein Haus mit Grundstück haben, die Erlen vor der Tür und den weiten, menschenleeren Vogelsberg um uns herum. Wir mussten nichts erleiden und doch hatten wir irgendwann das Gefühl: Jetzt reicht’s. Jetzt muss doch mal wieder was gehen. Was Echtes, Analoges, Normales. Ja, es gibt Alternativen, und ja, das Runterfahren hat seine schönen Seiten (wenn man kein Schausteller, Gastronom, Künstler, Clubbesitzer, Zirkusdirektor, Personal von alldem und vielen anderen betroffenen Bereichen ist), aber das Leben, das so um einen rum herrschte, der Trubel, die Möglichkeiten, die Geselligkeit fehlten doch schon sehr.

Was war es da so schön, sich plötzlich wieder in Lokalen treffen zu dürfen. Shoppen zu gehen, Ausstellungen zu besuchen! Aber geht Ihnen das auch so, dass einem alles immer noch komisch vorkommt? Dass man Angst hat, vielleicht doch für den nächsten Corona-Ausbruch im Vogelsberg zuständig zu sein, weil man die Zeichen einer Infektion übergangen hat oder sich der Freundin zu sehr genähert oder sich zu vielen Freundinnen überhaupt genähert hat oder alles zusammen…

Wir waren am Wochenende für einen Ausstellungsbesuch in Frankfurt, eine kleine Frauenrunde, und wir wussten nicht, ob wir uns gesetzeskonform verhalten, wenn wir, um der Verseuchung in Zug und U-Bahn zu entgehen, zu viert in einem Auto sitzen würden. Welche Regeln gelten für ein Zusammentreffen (in Hessen): zehn Personen oder zwei Haushalte und wenn beides, gelten dann die zehn Personen auch für die Haushalte oder ist es da egal, wie viele? Ist es normal, wenn in Frankfurt auf der Zeil gefühlt das Leben tobt, als wäre nichts gewesen, und sind wir schon völlig gaga, wenn wir angesichts der im Vogelsberg unüblichen Menschenmassen auch im Freien instinktiv zum Mundschutz greifen, obwohl man ja angeblich damit nicht sich selbst, sondern die anderen schützt – wenn überhaupt? Muss man in diesen Tagen überhaupt seinen sicheren abgeschiedenen Ort verlassen und sich der Kultur wegen in Gefahr begeben, auch wenn die wiedergewonnene Freiheit so wahnsinnig guttut? Und begibt man sich eigentlich in Gefahr, wenn doch alles, was man jetzt tut und plant, wieder erlaubt ist, sofern man die Regelungen überhaupt versteht? Wo hört gesetzliche Vorsorge auf, wo fängt Eigenverantwortung an und wie nah ist man eigentlich an Hysterie auf der einen Seite und Verschwörungstheorie auf der anderen? Und was würde wohl Herr Drosten seiner Frau raten, wenn sie nach Frankfurt fahren, zur Grillparty einladen oder shoppen gehen wollte?

Fragen über Fragen und gemischte Gefühle bei allem, was man so tut. Alles ist ein wenig komplizierter geworden – selbst Einladungen innerhalb der weiteren Familie – und kann es noch lange bleiben. Ich hoffe so sehr, dass wir als Gesellschaft einen normalen Umgang mit dem Virus finden und diejenigen, die ganz verrückt vor Sorge um was auch immer sind, wieder zu Ruhe kommen. Ich hoffe, dass wir auch nach Corona daran denken werden, wer uns mit seiner Arbeit den Arsch gerettet hat und wer nicht. (Angesichts geplanter Autokaufprämien und neuen Bestrebungen, den Mindestlohn von 9,35 wieder abzusenken, darf man daran schon jetzt berechtigte Zweifel haben.) Und ich hoffe, dass wir uns irgendwann wieder völlig unbekümmert zur Begrüßung die Hände schütteln und umarmen dürfen, wenn uns danach ist.

Bis dahin bleibe ich – zumindest im Rahmen meiner Möglichkeiten – regelkonform mit Tendenz zu kleinen Freiheiten, ähnlich wie beim Autofahren. Vielleicht geht es so ja auch…