Dorfkind

Früher, im Dorf meiner Jugend, traf man sich, wenn man jung war, entweder an der Milchbank oder in einer ganz bestimmten Kneipe, in der es Raubkopien von „Eis am Stiel“ zu sehen gab. Es gab eine Partylocation, die damals natürlich noch nicht so hieß und eher eine Bretterbude am Waldrand war. Mit Matratzen und so. Und es gab einen Bus nach Fulda. Wenn man den um 14:30 nicht genommen hatte, kam man nicht mehr weg. Und wenn man in Fulda den Bus um 19 Uhr nicht genommen hatte, kam man nicht mehr heim. Mein größtes Ziel damals war zum einen, nach der Schule in die Großstadt zu ziehen: München oder Hamburg. Berlin war zu der Zeit ja noch sehr im Osten. Oder Paris. Denn mein anderes Ziel war es, einen Franzosen zu heiraten, damit meine Kinder zweisprachig aufwachsen würden.

Geschafft habe ich es von dem einen Dorf in ein anderes Dorf, der Abstand zwischen beiden beträgt achtzig Kilometer, der zeitliche Abstand ungefähr zehn Jahre, in denen ich weder in dem einen noch in dem anderen Dorf wohnte, sondern meine Runden in der Republik drehte. Mein Mann ist kein Franzose, sondern ein Altenburger, von dem meine Kinder keine weitere sprachliche Entwicklung zu erwarten hatten, dann schon eher von mir, da ich die Unterhaltung immer mal mit Heubacher Platt bereichern kann. „‘s räänt bie freckt“, können sie inzwischen alle akzentfrei kundtun. Aber was soll ich sagen: Auch meine Entwicklung ist vorangeschritten. Obwohl ich mir gerne immer mal wieder eine Portion (Groß-) Stadt hole, bin ich zum bekennenden Landei geworden. Natürlich hängt das damit zusammen, dass ich im Gegensatz zu meinen 16-jährigen Ich eigentlich immer wegkann: Ich bin mobil und kann mir auch ab und zu eine Fahrkarte kaufen. Auch ohne Deutschland-Ticket, manchmal sogar erster Klasse. Aber es hängt auch damit zusammen, wie gut wir hier auf dem Land leben. Nicht nur während der Pandemie, als uns der viele Platz immer noch so viele Möglichkeiten geboten hat. Als uns klar wurde, wie schön unsere spießigen Ein- oder Zweifamilienhäuser mit Balkon und Garten sind. Häuser mit Grundstück, die man sich so in keiner größeren Stadt mehr leisten könnte. Von Großstadt mal ganz abgesehen. Es sei denn, man gehörte dort zu den oberen Tausend oder hätte geerbt. Dann vielleicht.

Ja, aber die Kultur und die Freizeit, höre ich so oft als Argument und muss sagen: Wir haben hier viele, viele Möglichkeiten. Sogar vor Ort, dort allerdings meist selbstverwaltet, was ja nicht das Schlechteste ist. Und Theater und Ausstellungen? Wenn jetzt zum Beispiel ein Berliner ins Theater oder zu Ausstellung will, dann hat er das alles ja auch nicht vor der Haustür, sondern ist mitunter genauso lang dorthin unterwegs wie wir nach Fulda, Gießen, Marburg oder Frankfurt. Vielleicht macht er es öfter und hat es gefühlt bequemer, weil er seine Stadt nicht verlassen muss, es eher gewohnt ist und die U- und S-Bahn ja quasi zum Alltag gehören. Wenn sie, gerade in der Hauptstadt, denn mal fahren. Einziger Knackpunkt: Man muss halt selbst mobil sein – ohne Auto geht ehrlich gesagt nichts. So eine Schnellbahn nach Frankfurt wäre schon was…

Und das schulische Angebot: Ja, das ist zwar vielleicht nicht ganz so vielfältig wie im Ballungsraum, aber verlässlicher. Bei uns muss niemand vor Gericht ziehen, damit das Kind an der Schule der Wahl aufgenommen wird. „Der Wahl“ ist jetzt zwar ein bisschen übertrieben, wenn im ganzen Kreis beispielsweise nur zwei Gymnasien zur Verfügung stehen, aber dennoch: Die Kinder sind in der Regel alle in derselben Kita oder Grundschule, was die familiäre Organisation extrem vereinfacht – und die weiterführenden Schulen, die ich hier kenne, bieten ihren Schülerinnen und Schülern viel. Mitunter mehr, als diese haben wollen.

Was nicht so richtig läuft auf dem Land, ist die medizinische Versorgung, die zunehmend selbst ihrem Ende entgegenzudämmern scheint. Was schade ist, denn die Wege in die großen Kliniken sind – ähnlich wie bei der Kultur – zwar auch nicht unbedingt weiter als im Ballungsraum, aber die Aussicht, bald niemanden mehr als Haus- oder Facharzt quasi ums Eck oder zumindest in der nächsten Kleinstadt zu haben, macht schon ein wenig Angst. Am besten, ich gebe allen potenziellen Anwärtern mal diese Kolumne – als ersten positiven Impuls sozusagen. Positive Impulse müssten man durchaus auch in Richtung Inklusion setzen. Und frische Pfarrer bräuchte man auch. Es ist also nicht so, dass hier nichts zu tun wäre.

Auch dass wir wenig für Jugendliche und junge Erwachsene haben, höre ich oft. Ich denke, das stimmt wohl, sonst würden sie sich ja nicht beklagen. Andererseits lassen viele von ihnen auch Angebote von Vereinen oder verschiedenen Jugendgruppen achtlos an sich vorbeiziehen. Selbst Runden, in denen sie ihre Meinung äußern könnten – ein erster Anflug von Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt im demokratischen Prozess -, können kaum jemanden zwischen fünfzehn und dreißig locken. Von anderen aktiven Gestaltungsaktivitäten, bei denen man in Alsfeld kaum jemand unter dreißig sieht, ganz zu schweigen. Tja, sag ich dann: Am Tisch sitzen und warten, bis das tolle Leben angeflogen kommt und sich beklagen, dass es woanders rumfliegt, ist dann vielleicht doch ein bisschen zu dünn. Da bin ich dann ganz alte, weiße Frau. Bin ich eh immer öfter.

Was noch fürs Landleben spricht, ist unsere unglaubliche Nachrichtendichte: Von hier kann man wirklich jeden, jeden Pups in der Zeitung oder im Internet lesen. Für die Nachrichtenredakteure des Lokalblattes ist unser Mittelgebirge der Harmlosigkeit zwar schon eine Herausforderung, in der eigentlich nur die Faschingszeit ein wirkliches Highlight bietet, aber für uns Landeier ist es ehrlich gesagt: herrlich! Ein mysteriöser Kneipchenfund in der Nähe der Schrebergärten (OMG) bis hin zu dem aktuellen Streit der Gemeinde Antrifttal wegen einer nicht und dann doch, aber von den Falschen, geschnittenen Hecke. Was kümmern uns die Eskalationen in den Großstädten der Silvesternacht, wenn wir es hier mit Heckenschnittboykott zu tun haben? Und was schert uns die Wohnungsnot in der Hauptstadt oder sonst wo, wenn wir uns bei Bedarf einfach noch ein Gartenhüttchen auf den Rasen stellen – für die E-Bikes für unsere ausgedehnten Wochenendtouren?

Genau genommen: nichts. Schön, oder? Jetzt muss ich aber Schluss machen. Bei den Nachbarn ist das Licht angegangen, da muss ich doch direkt mal schauen …

Bildnachweis: Heubach, von Milseburg – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=40168617