Digital Virgin
„Ja dann schicken wir es mal ein“ – Mit diesen Worten hieß vor wenigen Tagen Abschiednehmen von meinem Handy. Es begannen die spannendsten zwölf Stunden meines Lebens, denn ich war nicht nur 12 Stunden off, ich wusste auch nicht, ob ich jemals wieder so digital werden würde wie vorher. Und das kam so:
Mein I-Phone ging kaputt. Also, nicht richtig, nur die Entsperrung via Fingerabdruck funktionierte nicht mehr – sehr lästig, wenn man einen ansonsten sechsstelligen Code hat und immer mal wieder gerne schnell ein wenig daddeln will. An der Kasse, auf dem Klo, an der Ampel, in der Schlange vor dem Postschalter – keine Situation ohne Beschäftigung, in der man nicht mal schnell Mails checkt, Nachrichten abholt oder das Zeitgeschehen verfolgt, wenn auch nur in Stichpunkten.
Und nun ging das nicht mehr so einfach, und ich stiefelte mit meinem Handy in den Laden meines Vertrauens. Da müsste ich erstmal die Apple-Hotline anrufen, hieß es, nachdem ich zwanzig Minuten auf meinen Auftritt gewartet hatte, vorher könne man da im Fachhandel gar nichts sagen. Ganz gehorsame Kundin, ging ich nachhause und versuchte es mit der Apple-Hotline. Natürlich hatte ich anderes zu tun, als zwei Stunden auf Empfang zu warten, aber was macht man nicht alles für sein Handy. Irgendwann musste ich schlafengehen und meldete mich bei Apple für einen Rückruf am nächsten Tag um neun Uhr an. Und was soll ich sagen: Pünktlich um neun klingelte mein Handy, und Ravindra aus Irland war dran, um sich mit mir über mein Problem zu unterhalten. Ich sagte ihm meine IMEI-Nummer (von der ich bis dahin gar nichts wusste) und mit ein zwei Klicks war Ravindra auf meinem Handy, um eine Ferndiagnose zu erstellen. Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. „Ihre Touch-ID-Funktion ist kaputt“, sagte er mir. Das hatte ich zwar schon gewusst, weil ich ihn ja deswegen angerufen hatte, aber ich freute mich, dass Ravindra meine Einschätzung teilte. Mit dieser Erkenntnis ging ich wieder in den Handyladen meines Vertrauens, um um Reparatur oder gar Umtausch bitten. „Bist du denn sicher, dass die Touch-Funktion wirklich nicht geht“, fragte mich ein anderer Mitarbeiter als vorher. Er glaubte mir erst, als ich von meinem Gespräch mit seinem Quasi-Kollegen Ravindra erzählte. Der fremde Mann in Irland ist also vertrauenswürdiger als die bekannte Frau in Alsfeld.
„Ja dann schicken wir es mal ein“, sagte er, und fügte hinzu, dass der Umtausch bzw. die Reparatur gerne 10 Tage dauern könne. 10 Tage? Ohne Handy? Auf gar keinen Fall! Ich muss erreichbar sein. Ich habe Familie, Freunde, Kunden – so geht das nicht! Am Horizont erschien wie ein Silberstreif eine Ahnung von einer lang vergangenen handylosen Zeit, die Entspannung und Entschleunigung verhieß, aber was ist das schon im Gegensatz zur unbeschränkten Erreichbarkeit?
Ich nahm alle Sperrcodes aus meinem Handy und übergab es dem Mann. Schweren Herzens. Zuvor hatte ich die SIM-Karte entfernt, um sie in ein anderes Übergangshandy zu stecken, das noch aufzutreiben war. Meine digitale Identität stand auf dem Spiel. Kurz bevor der Mann sich mein Handy nahm, kam eine WhatsApp. Ich war überrascht, denn ich war der Meinung, dass sich alles auf der SIM-Karte abspielt, und schaute mir das Handy, das ich völlig entsperrt in fremde Hände geben wollte, genauer an. DA WAR ALLES NOCH DRAUF! Fotos, Mails, Chats, Kontakte, Kalender – ALLES. Klar mache ich nichts Verbotenes. Ich habe nicht mal Nacktfotos oder irgendwelchen Schweinekram auf meinem Handy. Aber irgendwie wollte ich auch nicht, dass jetzt irgendwer alles sieht und sich am Ende zu Tode langweilen würde. Das wäre aber jetzt so, kriegte ich auf meine panische Frage zur Antwort. Und wenn mein Handy ausgetauscht würde, würde es mit allen Daten drauf in die ewigen Mobilphone-Jagdgründe eingehen und ich hätte nie wieder, nie wieder unter Kontrolle, was damit passiert. (Ja, ich weiß, das habe ich jetzt auch nicht, aber ich kann wenigstens so tun, als ob.) „Ich kann es plattmachen“, bot mir der freundliche Herr an, „dann ist nix mehr drauf.“ Nun mache ich tatsächlich jeden Tag ein Backup (das Ergebnis der einen oder anderen schmerzhaften Erfahrung), aber ich fragte mich, ob wohl auch wirklich alles gesichert sei, was mir wichtig ist. „Dann nehme ich es nochmal mit nachhause und schaue nach dem Backup“, sagte ich. „Das ist aber blöd, ich habe jetzt schon alles im System veranlasst“, bekam ich zur Antwort. „Wenn ich das Handy nicht verpacke, geht morgen ein Paket leer auf die Reise.“ Warum das so war, habe ich zwar nicht verstanden, aber ich wollte dem System natürlich auch keine Unannehmlichkeiten machen, also holte ich tief Luft und sagte todesmutig: „Dann mach’s jetzt platt!“
Zwei Sekunden später stand ich ohne jegliche digitale Vergangenheit im Handyladen und konnte nicht mal mehr auf die Uhr schauen. In einer Stunde würde ich einen wichtigen Termin haben und war jetzt nicht mehr erreichbar, wenn sich etwas verschöbe. (Es war die Art Termin unter Frauen, die meist kurzfristig noch viele Abstimmungen in der Gruppe erfordern – ich war so gut wie raus!) Panik befiel mich. Sollten meine Kinder feststellen, dass kein Brot mehr im Haus ist, würden sie mich nicht anrufen können. Und sollte einer meiner Bekannten mir von seinem neuesten Ernährungskonzept erzählen wollen, würde er vor verschlossenen Ports stehen. Ich fragte mich, wann ich endgültig in Vergessenheit geraten würde – vermutlich würde ich den nächsten Tag schon nicht überstehen. Ein Ersatzhandy musste herbei – auch um zu klären, ob das mit dem Backup wirklich funktioniert hat. Je mehr ich über das Backup nachdachte, umso dringlicher stellte sich mir die Frage, was wohl alles gesichert wird außer den Terminen. Ich wusste es wirklich nicht (Wie blöd kann man eigentlich sein?) und zog die Möglichkeit in Erwägung, dass so ziemlich alles weg sein könnte. Einmal spontan „Mach’s jetzt platt“ gesagt, und schon geht’s zurück in die Steinzeit. Ich wäre von der Local Playerin zur Digital Virgin geworden. Von Mrs (vermeintlich) Wichtig zur digitalen Jungfrau ohne Vergangenheit. Und was soll ich sagen: Nachdem die erste Panik-Hitzewelle sich gelegt hatte, fühle es sich gar nicht so schlecht an… Ich fand die Frage spannend, welche von meinen 500 Kontakten ich mir dringend und ganz schnell wieder besorgen würde und kam auf vielleicht 30. Und ich fragte mich auch, um welche der 2.000 Fotos es mir wirklich leidtun würde, wenn ich ohnehin nichts mit ihnen anfing, als sie auf meinem Handy in der Gegend herumzutragen. Es war so ein bisschen wie die Vorstellung, wenn auf einmal aller Schrott von Dachboden oder aus dem Keller verschwunden wäre, ohne dass man hätte aufräumen müssen. Während ich so darüber nachdachte und mich unglaublich mutig fand, schritten meine analogen 12 Stunden (davon sechs Stunden Schlaf) voran:
An der Ladenkasse schaute ich wieder die Leute um mich herum an und philosophierte heimlich über ihre Einkäufe in Zusammenhang mit ihrem von mir erdachten Leben. An der Ampel schaute ich zu dem vertrauten Handy-Platz im Auto, der verwaist war. Vor meiner Abfahrt hatte ich meine Kinder angewiesen, den Papa anzurufen, falls was sein sollte. (Es ist ja immer irgendwas.) Mein letzter E-Mail-Check-Griff am Abend ging ins Leere, ebenso wie der erste am nächsten Morgen. Als meine Freundin mir wenige Stunden später ein Ersatz-I-Phone vorbeibrachte und ich es quasi in Windeseile zu meinem eigenen machen konnte, war ich zwar erleichtert, weil ALLES, ALLES wie von Zauberhand wieder da war, allerdings war es mir auch ein wenig mulmig, weil man ja nun auch weiß, dass das mit der Zauberhand irgendwie übergriffig sein könnte. Ob am Ende gar der ferne Ravindra seine Hände im Spiel hatte? Ach was soll’s?! Ist ja eigentlich auch egal. Hauptsache wieder on, Hauptsache wieder die Alte mit den ganzen alten Daten. Denn wer will schon zurück in die Steinzeit? Also ich nicht!