Die K-Frage

„Traudilein, zieh dir etwas Ordentliches an und mach dir nicht so ein Muster!“ Das sagte meine Mutter zu mir. Nicht etwa vor vierzig Jahren, da auch, aber das letzte Mal, dass sie es sagte, war vor gut zwei Monaten, nur wenige Wochen nach meinem 48. Geburtstag. Es war kurz vor meiner allerersten Lesung überhaupt, die zu allem Überfluss in meinem Heimatdorf stattfand. Und wenn ich dort mit Jeans und einem darüber getragenen Hüftschmeichler aufgetaucht wäre – gar nicht auszudenken!!!! Was sollen denn die Leute denken!

Ja, ja die K-Frage! Seit ich denken kann, ist die Kleiderfrage bei uns großes Thema und rückblickend – rückblickend, wohlgemerkt! – kann ich es auch manchmal verstehen, denn was ich in meiner Sturm- und Drangzeit so unter Mode verstand, entsprang größtenteils den Nachlässen meiner Großväter und Großonkel: Männerhemden aller Art, braune Wildlederjacken (von denen ich übrigens noch heute eine im Schrank habe), und natürlich das Jackett von Opas Hochzeitsanzug. Für meine Eltern, die stets adrett in weißen Kitteln hinter der Theke unseres kleinen Edeka-Ladens standen, war das starker Tobak. Für mich vielleicht nur die Antwort auf die seltsame Mode der Achtziger: Schlabberlook und Entenschuhe gegen Schulterpolster und Neonfarben. Letztlich war es aber auch ein pragmatischer Umgang mit den Shopping-Möglichkeiten: das Geld war knapp, der Bus nach Fulda fuhr selten und das Internet war noch nicht erfunden. Einer meiner Großonkel war Postbeamter. Aus seinem Fundus hatte ich mindestens zehn hellblaue Posthemden – gottseidank ohne Emblem -, lang, mit Schlitz! Was für mich eine stilistische Offenbarung war, trieb meinen Eltern regelmäßig den Angstschweiß auf die Stirn. Und das, wo sich meine Schwester doch schon immer so ordentlich anzog, sich früh schminkte und auch nie ungekämmt aus dem Haus ging! Was war bei mir wohl schiefgelaufen? Als die K-Frage eines Tages wieder einmal einen ihrer häufigen Höhepunkte erreichte, schwor ich mir: Sollte ich jemals Kinder haben, würden diese in Sachen Style und Klamotten alles machen dürfen, was sie wollen. Und was machen sie aus dieser Freiheit? So gut wie nichts. Alles Mainstream – Gott sei Dank! Denn zur Zeit meines juvenilen Schwurs waren es lediglich ein paar Hippies, Ökos und Punks, die das modische Bild ein wenig aufheiterten und das Spießertum der Popper und anderen Zeitgenossen ein wenig bunter machten. Als ich später – als Erwachsene und als Mutter – aber erstmals Jugendliche sah, deren Hosen weit unterhalb der Gürtellinie schlabberten, deren riesengroße völlig zweckentfremdet getragenen Turnschuhe nicht mehr gebundenen wurden, und die sich zu allem Überfluss ganz merkwürdige Ziegenbärtchen stehen ließen, dachte ich an meinen Schwur und schluckte. Ich müsste es meinen Kindern erlauben, dachte ich, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass ich dann wohl einfach meinen Mann diesen Streit austragen lassen müsste. Spätestens aber seit dieser Mode, wo man sich die Ohrläppchen aushöhlen lässt, und Reifen unterschiedlicher Größe – „Flesh Tunnel“, also „Fleischtunnel“ genannt – in den Hautrand quetscht, bin ich zumindest geneigt, über die Dauer meines Schwurs nachzudenken. Ich meine, 35 Jahre sind ja eine lange Zeit, finden Sie nicht? Allerdings gebe ich zu, dass es die jungen Leute heute auch schwer haben: tragen sie mit Absicht zerrissene Hosen, machen ihre Alten es ihnen nach! Tragen sie Turnschuhe ohne Bändel, machen ihre Alten es ihnen nach. Holen sie sich Hoodies aus einem Billigladen, kaufen sich ihre Alten die stylishen teuren Kapuzenteile im Designerladen und tragen sie unterm Anzug! Mütter sehen aus wie ihre Töchter, es gibt kaum noch optische Möglichkeiten für die Nachfolgegeneration sich abzugrenzen. Die Nachfolgegeneration in unserem Haus hat das irgendwie auch gar nicht vor – im Gegenteil!

Und ich? Ich trage immer noch gerne komische Sachen wie Röcke über Jeans und lange Schlabberkleider mit Cowboystiefeln, aber die Hemden meiner Opas sind schon lange im Sack. Und wenn ich nach Heubach fahre, dann suche ich mir stets was extra Ordentliches. Das dauert zwar immer ein bisschen und manchmal ist es auch heute noch nicht richtig, aber so sind Mütter halt. Immer was zu meckern. Wenn das keine Liebe ist! Stimmt’s Jungs?!

Morgen ist Muttertag! Seid nett zu euren Müttern! Verwirrt sie nicht mit ungeübter, aktionistischer Hilfe im Haushalt – kauft ihnen einfach das schöne rote Handtäschchen aus dem Laden in der Altstadt!