Die Entdeckung der Langsamkeit

Es war der letzte Schultag, ein schöner Sommertag, und damit irgendwie auch gleich der erste Ferientag. Sehr spontan beschlossen wir, ein Schwimmband in den Banlieues von Alsfeld aufzusuchen. So würde man wohl sagen, wenn Alsfeld eine große Stadt wäre. Natürlich hätte man auch zu Hause bleiben können, aufräumen, einkaufen, arbeiten. Aber es ging nicht. Es waren gerade Ferien! In dem kleinen Schwimmbad war es sehr gemütlich, die Menschen freundlich und nicht sonderlich zahlreich, die Frauen so, dass – subjektiv gesehen – die eigenen körperlichen Defizite nicht sonderlich ins Gewicht fielen. Die an langen Sonnentagen hart gewordenen Maulwurfhügel unter dem Badehandtuch dienten als Massageknubbel, die Bremsen hielten sich halbwegs zurück. Ein schöner Tag zum Chillen! Wie gewohnt, meldete sich nach der ersten Runde im kühlen Nass der kleine Hunger und wir suchten den benachbarten Kiosk auf. Vor uns waren zwei Mädchen, die der freundlichen Damen vor der schönen 70er-Jahre-Verkaufskulisse ihre Bestellung durchgaben:

„Dann hätten wir noch gerne zwei Cola-Schlangen. Und dann noch vier Herzen und sechs Ufos, von jeder Sorte eins.“ Die freundliche Dame legte alles sehr liebevoll auf einen Teller und schrieb jeden einzelnen Preis auf einen bereitliegenden Zettel. Es ging weiter. „Von den Riesenschlangen hätten wir gerne noch drei rote und drei gelbe. Und von den Schlümpfen zwei mit einer weißen Mütze und zwei mit einer roten.“ „Eine Riesenschlange kostet 7 ct, wieviel macht das dann zusammen“, fragte die nette Dame die Mädchen, denn wir hatten ja alle Zeit. Das eine Mädchen rechnete eifrig, während seine Freundin weiterbestellte. „Vier Kirschen, alle rot, und noch sechs Schaumschafe, von jeder Farbe eines.“ Am Ende hatten sich die beiden Mädchen einen Riesenberg zusammengekauft und zahlten 2,46 Euro. Ich fragte sie, ob das alles für sie sei, oder ob sie das noch mit anderen teilen würden. Es war alles für sie. Ich hoffte, dass ihnen nicht schlecht werden würde, aber ich denke, das hat nichts genützt. Der Berg war einfach zu groß. Aber so muss das wohl sein, wenn man zu Ferienbeginn mit seiner besten Freundin den Schwimmbadkiosk aufsucht!

Schließlich waren wir dran. Wir wurden mit derselben Hingabe bedient, bekamen frisch frittierte Pommes und köstliches Kaffeeeis und irgendwie fiel ich an diesem Nachmittag kurzfristig aus der Zeit. Denn was sich oben, aus meiner stets eilenden Feder geschrieben, so las wie Ironie („… denn wir hatten ja alle Zeit“), war an diesem Nachmittag wahr. Wir hatten Zeit. Einfach so – ein unglaubliches Gefühl, für das man vermutlich unbedingt den heimischen Herd verlassen und die Peripherie erkunden muss. So wie es im weitesten Sinn ja auch John Franklin, der Held aus Sten Nadolnys Buch getan hat. Aber das nur am Rande.

„Aus der Zeit gefallen“ ist, finde ich, ein schöner Begriff, denn aus der Zeit gefallen war auch der Kiosk mit seiner Retro-Ausstattung und einer Verkäuferin, die Spaß daran hatte, zehn Minuten lang einzelne Gummitiere zu sortieren für einen Umsatz von 2,46 Euro und sich dabei nett zu unterhalten. Und aus der Zeit gefallen waren auch meine Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitstage, in denen sich die Sommerferien wie eine schier endlose Zeit der schwülen Langeweile, des Ausschlafens und Schwimmengehens vor uns auftaten. Zeiten, in denen das Wort Chillen zwar noch nicht erfunden war, die dazugehörige Tätigkeit aber durchaus. Zeiten, in denen uns alljährlich „Die Kinder von Bullerbü“ und „Ferien auf Saltkrokan“ im Ferienprogramm der Öffentlich-Rechtlichen nur ganz wenig von unserer Zeit stahlen, die wir ansonsten, mangels Urlaubsreise, auf den Straßen unseres kleinen Dorfes verbrachten, das zumindest aber ein Schwimmbad hatte.

Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich ruckzuck wieder in die Zeit, minutiös eingeteilt auf meinen diversen To-do-Listen, zurückfiel, kaum dass wir das Schwimmbad mit seinem schönen Kiosk verlassen hatten. Aber ich habe an diesem Nachtmittag gemerkt, es wird Zeit für ein wenig Langsamkeit. Schneckentempo. Slow motion. Schwüle Hitze.

Viel Spaß in den Sommerferien!