Die Entdeckung der Langsamkeit, Teil 2

„Heute Morgen habe ich endlich wieder mal gefroren, stellt euch das vor!“ Übers Wetter zu schreiben, hat ja schon immer so was Verzweifeltes. So was von Themenlosigkeit mit Tendenz zu gar nichts mehr. Besonders nach so einer langen Auszeit. Aber wenn selbst so jemand wie ich, Sommerfan durch und durch, morgens um sieben am Schreibtisch sitzt und sich freut, endlich mal nicht daran festzukleben, kalte Beine zu bekommen, sich gar eine Jacke überzuziehen, da ist irgendwas nicht normal.

Oder doch? Ich kann mich an Sommer erinnern, die genauso waren wie dieser. Kann ich das wirklich? Kindheitssommer, die sich unendlich lang und blau und heiß vor mir ausdehnten und auf die ich bereits 1993 wehmütig zurückblickte, als Rudi Carrell seinen in diesem Jahr vielzitierten Hit „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“ anstimmte. Ich wusste genau, was er meinte: Sommer in den Siebzigern, also ganze Sommer, Sommermonate im Badeanzug und im Schwimmbad, lange warme Abende (so lange sie in der Kindheit halt waren), meine Mutter und meine Oma nur mit Unterwäsche unter ihren Ladenkitteln hinter der heimischen Wursttheke, die Männer im Dorf wochenlang im Doppelripp (bestenfalls) oder gleich nur in kurzer Hose (weil sie es konnten oder zumindest glaubten, dass sie es konnten, oder gar nicht drüber nachdachten). Die Wohnung tagsüber abgedunkelt, damit man sich zumindest halbwegs vor der Hitze zurückziehen konnte.

Man weiß heute, dass die Erinnerung uns Streiche spielt, dass wir oft nur glauben, uns an etwas zu erinnern, weil wir sicher sind, dass es so gewesen sein muss. Ich bin mir natürlich sicher, dass es so war und dass ich es genossen habe, genauso wie in diesem Jahr. Mit etwas mehr Verpflichtungen zwar und einem ängstlichen Blick auf den Klimawandel, aber auch mit ganz viel Schwimmbad, Draußensitzen, Schwitzen, Aperol, Grillen und mit der Erlaubnis, an der Arbeit alles etwas langsamer zu tun, eher mal einen Fehler zu machen und noch vergesslicher zu sein als sonst schon. Ich selbst habe mir erlaubt, die Wohnung verloddern zu lassen und nur das Allernötigste zu tun, ungeschminkt und in unvorteilhafter Kleidung vor die Tür zu gehen und mich nicht mehr zu föhnen. Zumindest für die fehlende Frisur gibt es eine Entschuldigung: Ich hatte festgestellt, dass die Haare, während sie trocken wurden, gleich wieder nass wurden. Ich war einem physikalischen Paradoxon auf der Spur, das ich mir nicht erklären konnte, und gab es daher gleich auf. Was soll’s! Natürlich hoffe ich insgeheim, dass ich mich zu alldem wieder aufraffen kann, wenn das Wetter wieder schlechter wird, und daher hoffe ich, dass es noch ein wenig so bleibt. Ich weiß, das ist unvernünftig. Aber welche Wünsche sind das nicht?

Die Wärme jedenfalls, so habe ich festgestellt, umhüllt die Menschen selbst in unseren vermeintlich so disziplinierten Gefilden mit einem Hauch von südländischer Nonchalance, lähmt eine Leistungsgesellschaft mehr als ein anhaltender, langer Winter, legt sich schwer über den Tatendrang, den man hier und da verspüren mag oder glaubt verspüren zu müssen, umfängt die Menschen mit einer nie gekannten Art der Langsamkeit. Und nicht nur – so wie ich vor einigen Jahren über einen denkwürdigen Schwimmbadbesuch schrieb – für einen kleinen Nachmittag lang, sondern für nun schon zwei Monate. „Das ist bestimmt die Hitze“ – dieser Grund gilt für alles: Magengrummeln, Faulheit, fehlende Konzentration, Schweißausbrüche, strähnige Haare, dicke Füße, verlaufene Mascara: „Mach dir nichts draus!“

So wird das Dolcefarniente geboren – und das im Vogelsberg!

Am Anfang des Sommers, wenn die Temperaturen, endlich mal auf über 25 Grad klettern und damit gemäß den Meteorologen echte Sommertage sind, begeistert man sich in unseren Breiten ja richtiggehend. Die Grills gehen gar nicht mehr aus, jede mögliche Minute wird draußen verbracht, denn der gemeine Deutsche (und der gemeine Oberhesse im Besonderen) weiß, dass diese Abend rar sind, dass jeder Sommertag, jeder Sommerabend genutzt werden muss. Ein Gefühl, dass nun nach sieben, acht Wochen langsam abgeflaut ist, besonders, wenn die Temperaturen anhaltend auf über 30 Grad klettern und sich da so festsetzen, als hätten sie sich verlaufen. Sollten die nicht eigentlich in Italien oder Spanien sein? Und bald kommt dann die Zeit, wo man auch mal wieder abends um viertel nach acht einen Tatort schauen will, obwohl das Wetter noch so gut ist. Wo man nicht das ganze Essen und Geschirr auf den Balkon schleppt, nicht nur, weil es zu heiß ist draußen, sondern weil man keine Lust mehr dazu hat.

Gestern Abend, als ich nochmal auf dem Balkon stand und die Temperaturen auf unter 15 Grad gefallen waren, roch es schon ein wenig nach Herbst, ganz so, wie es im Februar manchmal schon nach Frühling riecht. „Jetzt noch nicht“, dachte ich. „Bleib noch ein wenig, lieber Sommer. Ich will auch wieder das Essen raustragen und abends kein Fernsehen mehr schauen, solange du da bist.“ Ein Blick auf die Wetter-App lässt hoffen.

Also: Raus mit uns!