Der letzte höfliche Mensch

In das neue Jahr startet man ja immer mit mehr oder weniger ernsthaften Vorsätzen. Ich zumindest. Die Auswahl an Verbesserungsmöglich-keiten wäre enorm, wenn ich mal ehrlich bin: keine Zigaretten, weniger essen, weniger Alkohol, weniger Termine, weniger Kaffee, weniger Fleisch, weniger Shoppen, mehr Ordnung, mehr Geduld, mehr Schlaf, mehr Struktur, mehr Neinsagen, mehr Lesen, mehr Sport – mehr von dem, weniger vom anderen, gar nichts mehr von dem ganz anderen…. Die meisten Dinge schon tausendmal probiert – nicht nur zu Neujahr, sondern auch unter dem Jahr, in der Fastenzeit, vorm Urlaub, in einem kurzen, lichten Moment, der so schnell vorbei war, wie er gekommen ist. Und warum: Natürlich, weil der Geist schwach ist und das Fleisch stark, aber auch, weil vieles von dem, was ich mir vornehmen könnte, halt einfach nicht zu mir passt, was vielleicht auch wieder mit dem Geist und dem Fleisch zu tun hat. Das mit dem Neinsagen übe ich schon so lange ich denken kann, aber es gelingt mir nicht: Gerade eben habe ich nach kurzem Zögern eine Lesung zugesagt – an meinem eigenen Geburtstag, noch dazu an einem Sonntag und nach einer krachenden Party! Geht’s noch?! Von den anderen Dingen will ich schweigen – viele davon sind Ausdruck von Kontrollverlust, aber ganz ehrlich: Menschen, die sich immer unter Kontrolle haben, sind mir suspekter als ich es mir bin. Wahrscheinlich ist alles ohnehin nur Kopfsache und eigentlich, in meinem tiefsten Inneren, will ich vermutlich genauso bleiben wie ich bin: chaotisch, übergewichtig, den Alltagsdrogen nicht abgeneigt, immer unter Strom und nie am Ende einer Aufgabe.

Allerdings hatte ich vor Weihnachten dann doch Gelegenheit, einen guten Vorsatz zu fassen. Nicht nur für das neue Jahr, sondern für mein restliches Leben: Ich will der letzte Mensch bleiben, der höflich ist. Und das kam so:

Wir saßen in einem Theater auf reservierten Plätzen, als zwei ältere Herren kamen und auch auf Platzreservierungen bestanden. Sicher hatte man ihnen auch zwei Plätze reserviert, aber irgendwie war ein Platz zu wenig vorhanden – das kann ja mal passieren. Während wir schauten, was vielleicht schiefgelaufen sein könnte und ob es an der Reihe vielleicht nur ein wenig hin- und herzurücken gab, waren die beiden Herren nicht geneigt, auch nur irgendetwas Konstruktives zur Lösung des Problems beizutragen – im Gegenteil: Wir säßen auf einem ihrer Plätze und das völlig zu Unrecht und der Rest sei ihnen egal. Außerdem hätten sie ein Recht auf die Plätze – die Tochter des einen sei die Hauptdarstellerin. Nun hatte ich die Mutter der Hauptdarstellerin zuvor gesehen und bemerkt, wie sie sich in eine der hinteren Reihen zurückgezogen hatte, aber die Höflichkeit verbot es mir, darauf einzugehen. Am Ende lenkte eine Dame aus unserer Gruppe ein und setzte sich woanders hin – ein Ensemblemitglied übrigens -, und die beiden Herren nahmen direkt hinter mir Platz.

„Früher hätte ich mir das ja gefallen lassen“, raunte der eine dem anderen zu, „aber diese Zeiten sind vorbei. Die Menschen werden immer rabiater und ich möchte nicht am Ende der letzte höfliche Mensch sein.“ Diesen Plan hatte der Herr an diesem Tag erfolgreich in die Tat umgesetzt – er konnte stolz auf sich sein! Schon einen Tag zuvor hatte ein anderer, ebenfalls älterer Herr bewiesen, dass auch er alle Ambitionen in Sachen Höflichkeit bereits aufgegeben hatte. Zwei Tage vor Weihnachten schob er an einer langen, langen Schlange vor der Metzgertheke vorbei, und ließ sich auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht dazu bewegen, sich wieder hintenanzustellen. „Sie schwätzen doch sowieso noch“, war sein einziger Kommentar, bevor er uns alle wieder mit Missachtung strafte. Nur Körpereinsatz hätte ihn von seinem unrechtmäßig eingenommen Platz direkt vor der Wurst fernhalten können. Aber das wollte in der Schlange wohl niemand. Wir waren alle fassungslos von soviel Dreistigkeit, aber im Nachhinein denke ich, wir hätten ihn vielleicht nur in unser Schlangengespräch, das sich in Alsfeld, wo man in der Schlange ja immer jemanden kennt, gut entwickelt hatte, einbeziehen müssen. Vermutlich fühlte er sich nur einsam.

Egal wie – diese Beispiele zeigen, dass man mit Unhöflichkeit, Dreistigkeit und Ignoranz seine Ziele schnell erreicht, seien es nun die besten Plätze im Theater oder die letzte Kartoffelwurst vor Weihnachten. Das gilt auch im übertragenen Sinn, wie man in der aktuellen Politik sicher ohne große Mühe feststellen kann. Ich will jetzt auch nichts dazu sagen, dass hinter beiden beschriebenen Fällen von Unhöflichkeit Männer standen und dass mir auch in der Politik als erstes ein Mann zu dem Thema einfällt. Ich will mir nur Gedanken über die Höflichkeit machen. Über Respekt, über einen wertschätzenden Umgang miteinander. Nicht zuletzt, weil ich auch Angst habe, dass man mit zu viel Höflichkeit den Unhöflichen stets das Feld überlässt. Getreu dem Motto, wenn die Klugen immer nachgeben, haben bald nur noch die Dummen das Sagen. Aber ich will es versuchen. Trotz meines losen Mundwerks, trotz meines Temperaments: höflich bleiben, Respekt zeigen. Es ist schwierig in diesen Tagen, und ich weiß nicht, ob es gelingt, ich weiß nicht mal, ob es zielführend ist. Aber wie sagte Michelle Obama so schön: „When they go low, we go high.“ Kommen Sie doch einfach mit! Falls es mir gelingt, der letzte höfliche Mensch zu bleiben, wäre ich nicht so allein…