Déjà-vu

Als ich vor wenigen Jahren einen an sich gutaussehenden Mann mit einem Schnurrbart sah, rieb ich mir kurz die Augen und fühlte mich zurückkatapultiert in die langen Jahrzehnte der Siebziger- bis Mitte der Neunzigerjahre, als viele, sehr viele Männer einen Schnurrbart trugen. Später waren es dann nur noch wenige, die dem Trend zum Abrasieren trotzten, u. a. Rudi Völler und mein Onkel Gerhard. Sie konnten das aber auch tragen, ehrlich. Selbst mein Mann, den ich trotz seiner mitunter despektierlich „Pornobalken“ genannten Oberlippenbehaarung ehelichte, was meine Kinder später beim Anblick unseres Hochzeitsbildes zu der Feststellung veranlasste „Du hast ein Brautkleid getragen und der Papa einen Schnurrbart“, nahm das Teil nach intensiven und sehr langwierigen Beratungen mit der Friseurin seines Vertrauens irgendwann ab.

Nachdem nun im neuen Jahrtausend zunächst die Vollbärte – meist in Kombination mit einem Man Bun, um nicht zu maskulin zu wirken – fröhliche Urständ feierten und vermutlich schon wieder ein wenig auf dem absteigenden Ast sind, haben die ersten trendsettenden Männer sich in Form des Schnauzers einer neuen Gesichtsverzierung besonnen, wahrscheinlich nur aus einem Grund: Weil sie es können. Über den optischen Gewinn will ich schweigen. Ich sag nur: „Es gibt nur ein‘ Rudi Völler.“ Vielleicht kann ich als Frau aber auch nur nicht verstehen, was die Magie des Oberlippenbartes ist.

Doch nicht nur der Schnurrbart drängt mit Macht aus den Untiefen der Geschichte wieder an die Sonne, sondern auch ein anderes Accessoire der Neunzigerjahre: Die weiße Tennissocke ist wieder da. Ehrlich. Stellenweise sah man die Teile schon im vergangenen Jahr, bei ganz besonders modebewussten Männern akkurat hochgezogen und getragen zu Shorts und Jeans. Ganz Mutige kombinieren sie völlig schmerzfrei mit Adiletten. Adiletten! Ich glaube es nicht.

Schön ist allerdings, dass endlich auch die Männer mal in den Genuss modischer Maximalverirrungen kommen, und so wurden in diesem Jahr auch wieder vermehrt Männer mit Handtaschen gesehen. Sie wissen schon, Herrenhandtaschen. (Nicht diese Unglücklichen, die mit den Handtaschen ihrer Frauen vor den Umkleidekabinen der Welt stehen.) Ich meine, ich kann’s verstehen: Ich könnte ohne Handtasche nicht leben und frage mich ständig, wie Männer das tun. Also, bei meinem Mann weiß ich es, denn der parkt einfach alles, was nicht in seine Arschtasche oder die fünf Taschen seiner Jacke passt, in meiner Handtasche. Und meine männlichen Kinder tun das mitunter auch – sogar heute noch. Es ist also ein großer Sprung zum einen in Richtung Unabhängigkeit, wenn Männer eine eigene Handtasche tragen, aber auch in Richtung optische Verbesserung, weil sie dann halt einfach nicht so ausgestopft und verbeult aussehen, die Guten. In einschlägigen Zeitungsberichten, sogar in der guten alten OZ, war bereits von dem Trend zur Herrenhandtasche die Rede. Als Grund für das männliche Überwinden der „kulturell bedingten Berührungsängste“ mit der Handtasche nannten die Verfasser dieser Beiträge zum einen den Klimawandel, in dessen Folge Männer vermehrt ohne Jacke unterwegs sind, und das fortgeschrittene Tragen von Jogginghosen, die unter zu viel Last zu sehr ausbeulen. Das, würde ich sagen, ist eine andere Baustelle. Ansonsten: Nur Mut, Jungs, Handtaschen sind einfach geil! Aber: Sie sind Rudeltiere, müsst ihr wissen. Wenn ihr einmal damit anfangt, könnt ihr nicht mehr aufhören. Und für alle, die mitreden wollen: Die Dinger heißen „Murse“ von „Male purse“ oder „Men’s bags“. Ihre Vorläufer sind „Belt Bags“ oder „Cross-Over-Bags“. Ein bisschen 2022 muss halt sein. Auch bei Herrenhandtaschen.

Mit der Pilotenbrille wurde in diesem Sommer ein weiteres Relikt aus der Generation Top Gun wieder vermehrt gesichtet, dazu kamen Schulterpolster, Karottenhosen, Blousons aus Ballonseide – ich fürchte, wenn der Gewöhnungsprozess eingesetzt hat, werde ich dann auch das eine oder andere davon tragen. Bei Oversize-Sachen mache ich schon wieder ganz weit vorne mit. Sind auch einfach zu praktisch, die stylischen Sackwaren – gerade jetzt, wenn man zu Weihnachten und Silvester zwei-, dreimal zu häufig ans Büffett gegangen ist.

Apropos Déjà-vu: Ein Wiedersehen der ganz anderen, der maximal erfreulichen Art hatte ich vorgestern im guten alten Kreuz in Fulda: Proppenvoll war es, vorne auf der Bühne spielte eine der tollsten Big Bands der Region und und ich war zusammen mit guten alten Freunden. Als ich so von hinten über den Saal auf etwa sechshundert Menschen blickte, war ich so glücklich, dass das wieder geht. Ich hatte echt Sorge, dass wir uns manche Dinge mit Corona abgewöhnt haben, und freue mich umso mehr über offene Grenzen, tolle Begegnungen und ja, auch den guten alten Händedruck.

Was ich im neuen Jahr gerne wieder mehr sehen würde, wurde mir gestern bewusst, als ich den Fuldaer Philosophen (das gibt’s wirklich) Dr. Christoph Quarch im Radio sprechen hörte. Er schafft es, der ganzen verqueren Lage eine Chance abzugewinnen, die wir, jetzt mal mit meinen wenigen und nicht ganz so philosophischen Worten wiedergegeben, selbst mitgestalten können: Wir sollten wieder mehr Gemeinsinn entwickeln, das Gemeinwesen pflegen, nicht mehr in erster Linie uns als Individuen sehen, sondern als Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam Herausforderungen zu lösen haben. Ein Versuch wär’s wert, denke ich, und hört sich auch gar nicht so schwierig an, oder?

Um jetzt nochmal die Kurve zum Anfang zu kriegen – was selbst für mich, die ich wirklich alles irgendwie verbinden kann, jetzt nicht so ganz auf der Hand liegt -, würde ich sagen, dass das mit dem Gemeinsinn ganz unabhängig von Schnurrbart oder Tennissocken funktioniert. Wenn wir nur ein wenig Empathie und Zuversicht aus unseren Handtäschchen holen.

In diesem Sinn: Let’s come together!

Kleine Anmerkungen

Das Gespräch mit Herrn Quarch gibt’s hier: https://www.hr-inforadio.de/podcast/das-thema/index.html

… und wo es das Getränk für die besten Déjà-vus gibt, weiß ich leider nicht. Das Bild ist ein Stockfoto. Wir müssen uns unsere besten Déjà-vu-Getränke selbst mixen.