Alte Dampflok Mama

Mit Muttertag ist es ja so eine Sache: Er kommt jedes Jahr wieder und ist ähnlich emotionsbeladen wie Weihnachten. Menschen wie ich haben dann einerseits stets das Bedürfnis, über solch bedeutende Tage etwas zu schreiben. Andererseits besteht auch immer akute Wiederholungsgefahr: Es ist ja schon immer viel dasselbe.

Welch glücklicher Umstand, dass ich just eine Woche vor dem diesjährigen Muttertag eine Begegnung mit meinem mütterlichen Alter Ego hatte. Wobei „Alter“ in diesem Fall nicht nur für „anders“ steht, sondern auch für „alt“. Also, genauso alt wie ich, vermutlich. Wie auch immer: Ich traf die alte Dampflok Mama, die in dem Musical Starlight Express – wenn man es mal genau nimmt – die ganze Arbeit macht: Sie holt mit letzter Kraft den ersten Sieg für die Dampfloks, und das, obwohl sie den allerschwersten Wagen, den Eisenwaggon, ziehen muss. Sie spricht dem armen, verzweifelten Dampflok-Jungen Rusty Mut zu, sie ist vermutlich der sagenumwobene Starlight-Express persönlich und sie verspricht allen Mitwirkenden und dem Publikum am Ende der Aufführung „Da ist Licht am Ende des Tunnels.“ Wow. Dazu kann sie natürlich hammermäßig singen, tanzen und Rollschuhe laufen. Vielleicht ist das mit dem Alter Ego dann doch mehr Wunschdenken als Realität. Allerdings hat sie eine sehr mütterliche Figur, aus der sie u.a. diese unglaubliche Blues-Stimme und die Energie für unzählige Runden auf den Rollschuhen rausholt. Die mütterliche Figur eint uns ansatzweise und ich muss sagen: Ich fühle mich der alten Dampflok sehr verbunden.

Als ich mich auf der Fahrt nach Bochum zu dem Musical kurz einlas und erstmals von der „Alten Dampflok Mama“ erfuhr, dachte ich, ja, klar: Die Mutter als alte Dampflok. Blöder geht’s ja nicht. Aber dann, als sie auftrat, war mir klar, dass diese Person das Highlight der ganzen Aufführung ist: Sie steckt inhaltlich, sportlich und stimmlich das ganze Ensemble in die Tasche. Das pubertäre Geplänkel des missmutigen Rusty, der seinem wunderschönen Erste-Klasse-Waggon Pearl hinterhertrauert, genauso wie das vermeintliche Liebesdrama um die aufgemotzte Diesellok Greaseball und den Speisewagen Dinah. Wer „Starlight Express“ nicht kennt, steigt wahrscheinlich jetzt kopfschüttelnd aus. Ja, kann ich verstehen. Es ist jetzt inhaltlich eher unterkomplex (obwohl man sich, wenn man möchte, mit der Funktionsweise der Dampfloks beschäftigen kann) und liebesmäßig absolut unoriginell, wenn man mal davon absieht, dass die Akteure allesamt Lokomotiven und Waggons sind, was doch so einen kleinen extravaganten Touch hat. Aber die Aufführung mit den Rollschuhen, die Kostüme, die Masken – es ist wie ein Traum. Und genau das ist es ja auch. Der Traum eines Kindes.

Was lernen wir daraus: Muttersein hört nie auf – selbst in fortgeschrittenem Alter müssen wir immer wieder ran. Als ich diese Kolumne anfing, hatte ich beispielsweise in der ersten Morgenstunde bereits zwei halberwachsene Söhne in den Tag geschubst, Brötchen geholt, Wäsche aufgehängt, die Spülmaschine ausgeräumt und den Tag geplant. Die alte Dampflok Mama läuft noch, würde ich sagen. Und selbst, wenn all das nicht mehr anfällt, wenn die Kinder groß und hoffentlich selbstständig werden, bleibt man trotzdem Mutter, stets in Sorge um die Sprößlinge, denen es gut gehen soll – auch auf die Gefahr hin zu nerven. Diese Sorge meiner Mutter habe ich beispielsweise erst spät verstanden. Dazu musste ich dann schon selbst Mutter sein.

Zur Mama im Musical muss man wissen, dass dieser Charakter von Sir Andrew Lloyd Webber höchstpersönlich neu erfunden wurde: Vor sieben Jahren stellte man fest, dass man zu wenig weibliche Personen im Musical hat, und hat den bis dahin amtierenden Papa mal eben umgewandelt. Warum auch nicht. Als Darstellerin für Bochum konnte man mit Reva Rice eine Künstlerin gewinnen, die vor vierzig Jahren die Original-Pearl, also Rustys ersten Luxus-Erste-Klasse-Waggon, gespielt hat. Ich finde, das hebt diese Person und damit die ganze Aufführung schon wieder auf eine neue Ebene: Es könnte doch sein, dass aus der schönen Pearl tatsächlich Mama hätte werden können: Sie hätte nur mal eben zur Lok umschulen müssen. Älter geworden wäre und ist sie ja von ganz allein. Ach, so kann man halt träumen, während die Darsteller immer um einen herumfahren, und man kann – wie das so ist im Märchen – jede Menge Bezüge zur Gegenwart finden.

Und feststellen, dass alte Dampfloks auch ihren Charme haben. Und was für einen! Danke, Mama.

Hier noch ein kleiner Muttertagsnachtrag aus aktuellem Anlass: Eine Kita in der Region (interessanterweise unter katholischer Trägerschaft) verzichtet in diesem Jahr darauf, „stereotype Mutter- und Vatertagsgeschenke“ zu basteln. Neben dem Wunsch, Diversität vorzuleben, sei „die Konstellation Mutter Vater Kind/er nicht mehr die Norm in heutigen Familien“. Ich kann dazu nur sagen: Egal, wie die Norm ist, jedes Kind hat eine Bezugsperson, der es vielleicht an diesen Tagen etwas schenken möchte, und die Bastelarbeit in der Kita wäre vielleicht die einzige Möglichkeit dazu. Denn nicht alle, die Vielfalt leben, sind reich. Auch das ist Vielfalt. Vielleicht wäre es möglich gewesen, die Kreativität der Pädagoginnen in das Basteln eines nicht-stereotypen Geschenks zu legen, anstatt die Kinder ohne Geschenk nachhause gehen zu lassen. Vielleicht steckte mehr dahinter: Keine Lust oder auch sehr reales Zeit- und Personalproblem. Aber vielleicht ist das Team dieser Kita seiner Zeit auch nur voraus. Wer weiß.

Ich bin sicher keine Verfechterin von unnützen Traditionen, und der Muttertag so – na ja, er hat ja seine Tücken und könnte durchaus ein Relaunch vertragen. Aber ich weiß auch nicht, ob man alles in Frage stellen muss, was unseren Jahreslauf und unser Leben so auszeichnet. Und wo ich schon dabei bin: Ich respektiere fast jeden Lebensentwurf und bemühe mich, Menschen so anzusprechen, wie sie es möchten. Ich versuche über den Tellerrand zu schauen und erkenne, dass es vieles gibt, was auf mich nicht zutrifft. Geht ja auch gar nicht und ist völlig in Ordnung. Aber egal, was andere sagen und sein möchten: Ich finde, ich gehöre auch zur Vielfalt. Und ich möchte gerne Frau und Mutter bleiben. Nicht (ehemals) menstruierende, stillende und gebärende Person oder, wie ich soeben als weiteren Vorschlag gelesen habe, Mensch mit Uterus. Frau und Mutter, je nach Kontext, reichen mir.