Alles nur gefühlt

Zum ersten Mal hörte ich das Wort „gefühlt“ für etwas, das wir anders wahrnehmen als es tatsächlich ist, als ein Meteorologe von der „gefühlten Temperatur“ sprach. Ich war ihm dankbar dafür, dass er mir erklärte, warum es mir manchmal kälter vorkam, als es temperaturmäßig war. Das ist lange her. Inzwischen ist gefühlt alles gefühlt. Wenn ich abends vorm Fernseher sitze und langsam zur Ruhe kommen, ist die gefühlte Zeit weit nach Mitternacht, wenn ich morgens aufstehe, auch, allerdings nicht weit genug. Und es fühlt sich jedes Mal anders an. Wenn ich in den Spiegel schaue, gilt mein erster Blick gefühlt meinem Opa, von dem mir hauptsächlich seine verwuschelten schwarzen Haare in Erinnerung sind, und das obwohl ich gefühlt immer noch 39 bin und monatlich gefühlt hunderte von Euros für teure Anti-Aging-Produkte ausgebe.

Im Lauf des Morgens renne ich gefühlt zwanzig Mal zu den Kindern, um sie zu wecken. „Ich habe es heute nicht so eilig“, verkündet eins von ihnen, „unser Lehrer kommt gefühlt jede Stunde zu spät.“ Da fühlt man sich als Schüler doch gleich viel besser verstanden und geht guten Gefühls noch ein wenig langsamer zur Schule.

Wenn ich früher etwas fühlte, war es meistens sehr emotional, schön, traurig, schrecklich, unvergesslich. Heute fühle ich mich gefühlt nicht mehr ganz so gefühlvoll, da ja alles gefühlt ist. Inflationär gefühlt sozusagen. Da liegt es auf der Hand, dass auch über den persönlichen und privaten Horizont hinaus immer mehr gefühlt wird. Die Süddeutsche fragte in einem Beitrag aus dem vorletzten Jahr, ob vielleicht die Inflation nur gefühlt wäre, viel früher schon berichtete Focus über die „gefühlt arme Mittelschicht“. Ich habe mal gelernt, dass man Inflation durchaus anhand von Vergleichszahlen definieren und berechnen kann. Was bitte ist daran gefühlt? Und wann ist etwas nur gefühlt? Das Wort „gefühlt“ relativiert die Realität und ist damit – gefühlt zumindest – der lässige Bruder des so (übrigens völlig zur unrecht) verpönten Wörtchens eigentlich. Es schwabbelt so darum, gibt eine Meinung wieder, ohne genau zu sein und ohne dass sich hinterher jemand sagen lassen müsste, er habe sich festgelegt. Ein schönes Gefühl, finden Sie nicht!

Was waren das noch für Zeiten, als Gefühle noch prickelten oder wehtaten, Schmetterlinge oder Bauchschmerzen machten. Oder als man sich auf seine Gefühle noch uneingeschränkt verlassen konnte. Als Hausfrau zum Beispiel! Erinnern Sie sich noch an Loriots Sketch vom Frühstücksei, als die Hausfrau, ohne jeden Zweifel zuzulassen, sagte, sie habe es im Gefühl, wenn ein Viereinhalb-Minuten-Ein fertig ist. Das waren noch Gefühle damals, fein justiert, so genau, dass man sogar ein Frühstücksei danach kochen konnte. Heute hätte ein gefühltes Viereinhalb-Minuten-Ei irgendwo zwischen zwei und acht Minuten gekocht. Dann wäre es halt je nach Gefühlslage ein weiches oder ein hartes Ei, es läge im Auge des Betrachters, bzw. im Gefühl des Essers, auch wenn es eigentlich ein verhunztes Ei ist.

Gefühlte Wahrnehmung macht die Realität seicht und erträglich. Allerdings kommt es dabei – ganz ungefühlt – darauf an, an welchem Ende der Gefühlskette man sich befindet. Während manche Herrschaften am einen Ende fühlen fühlen, dass Hartz-IV-Empfänger nicht arm sind, fühlen die sich vielleicht doch so. Und das nicht nur gefühlt, weil Hunger und Wohnungsnot doch sehr real sein können.

Wer fühlt denn jetzt hier das Richtige? Und wer das Falsche? Und kann man sich über Gefühle eigentlich streiten oder ist das wie mit dem Geschmack, über den sich bekanntlich ja nicht streiten lässt, über den man gefühlt aber ständig mit irgendwem streiten könnte! Mein Gefühl sagt mir, dass dies eigentlich, gefühlt also, eine ziemlich sinnlose Diskussion sein könnte, andererseits ist es aber nun mal gefühlt so, dass alles irgendwie immer nur gefühlt ist.

Und das soll es jetzt dazu auch gewesen sein. Denn gefühlt ist jetzt alles dazu gesagt. Oder fühlt jemand was anderes?

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/preissteigerung-warum-so-viele-verbraucher-die-inflationueberschaetzen-1.347279, zuletzt heruntergeladen am 7.4.2019

https://www.focus.de/finanzen/karriere/berufsleben/gehalt/tid-12605/gehaelter-gefuehlte-armut-in-der-mittelschicht_aid_349812.html, zuletzt heruntergeladen am 1.4.2019