Der Weg als Ziel, Teil I

Wenn einer was erleben will, dann soll er eine Reise tun. Ganz besonders gilt dies, wenn man die Reise mit der Deutschen Bahn unternimmt. Jeder, der dies schon mal getan hat, weiß, wovon ich spreche. Denn soeben nutze ich 90 Minuten Verspätung auf dem Weg nach Berlin, um diese Kolumne zu schreiben. Leicht verdientes Geld, könnte man meinen, doch da irren Sie sich gewaltig! Alles begann in Fulda, wo wir mit zehn Minuten Verspätung außerplanmäßig „vom Bahnsteig gegenüber“ abfuhren. Warum, wissen wir nicht, auch nicht, warum mehrere Waggons abgehängt waren, ausnahmsweise nicht der, in dem ich reserviert hatte. In dem war nur die Heizung ausgefallen, was bei einer Fahrzeit von gut drei Stunden (die später zu knapp fünf Stunden wurden) nur so mittel ist, aber meinen im Koffer in die Hauptstadt mitgeführten Vogelsberger Wurstwaren sehr zugute kam. „Heute leider kein Klima in Wagen 32“ kündigte die Anzeigetafel an, obwohl wir in Wagen 23 saßen und eigentlich schon Klima hatten, wenn auch sehr frisches.

Auf der Fahrt gelang es der Bahn, noch viele weitere Minuten Verspätung einzufahren: mal mussten wir warten, bis ein IC unseren ICE überholt hatte, mal war die Strecke offensichtlich zur großen Überraschung der Lokführer (vielleicht waren die schon wieder mit einem ihrer nächsten Streiks beschäftigt) nur in eine Richtung befahrbar und unser Zug hatte offenbar die Wartekarte des Tages gezogen. Manchmal hielten wir auch völlig ohne Grund in der langsam aufkommenden Dunkelheit auf freier Strecke, und als wir schon eine Stunde Verspätung erwirtschaftet hatten, hielt die Bahn netterweise und außerplanmäßig in Wolfsburg, um ein paar verirrte Fahrgäste rauszulassen, die irgendwo (vielleicht schon in Fulda am Bahnsteig gegenüber?) falsch eingestiegen waren. Während ich so viel Fürsorge sehr tröstlich fand, schließlich könnte so etwas auch mir sehr leicht passieren, war mein Gegenüber etwas ungehalten, was vermutlich daran lag, dass in einem Abteil, in dem kein Klima ist, auch kein Strom ist und er daher nicht an seinem kleinen Laptop arbeiten konnte – im Gegensatz zu mir, wie man sieht. Gut, dass ich mein Tablet erst aufgeladen hatte!

Nach gut zwei Stunden ging das freundliche Personal durch die Abteile und verteilte aufgrund der herrschenden Kälte Gutscheine für je ein Heißgetränk. Unglücklicherweise waren aber die Kollegen vom Mitropa-Team im Bistro zu beschäftigt, um jetzt auch noch mit ihrem schönen Kaffeewagen vorbeizukommen. Wahrscheinlich war es ihnen auch zu kalt. „Sie müssen den Kaffee auch nicht heute trinken“, lautete der Vorschlag der netten Zugbegleiterin. Stimmt, vielleicht wäre es ja auf der Rückfahrt auch wieder kalt. Dennoch bewegte ich mich in Richtung Bistro. Ich kam kurz vor der Schlange der anderen Frierenden dort an, das Personal war tatsächlich sehr gestresst. Einer schimpfte über die blöde Idee mit den Gutscheinen, während seine Kollegin nach einer geeigneten Ablage dafür suchte. Die Schlange wurde währenddessen immer länger. Um den Kaffeebecher herum war eine Banderole, auf der stand „Wussten Sie schon, dass Kaffee gute Laune macht?“ Ich weiß das natürlich, aber ich fragte mich, warum die Mitropa-Mitarbeiter das nicht mal ausprobierten…

Auf dem Rückweg ins kalte Abteil sah ich die Zugbegleiterinnen sich die Nase pudern, bevor sie sich aufmachten, uns die „Fahrgastrechte für Verspätungen ab 60 Minuten“ auszuteilen. Optimistisch war der Stempel in die Spalte 60 Minuten gesetzt, während die Bahn daran arbeitete, die 120-Minuten-Spalte zu knacken. In den Durchsagen waren nun aus den „voraussichtlichen Ankunftszeiten“ „Ankunftsprognosen“ geworden, die ständig nach hinten korrigiert wurden. Spät am Abend kamen wir an. Wegen der großen Verspätung fuhr der Zug nur bis zum Hauptbahnhof – das Personal muss ja auch mal Feierabend haben, besonders das Mitropa-Team. Wer zum Südkreuz gewollt hatte, musste sehen, wo er blieb. Wer abgeholt werden wollte, war auf die Geduld der Abholer angewiesen. Die Frau neben mir hat auf dieser Fahrt mehr als 200 Seiten gelesen, und ich, na, das sehen Sie ja!

Fortsetzung folgt, derzeitige Ankunftsprognose: zwei Wochen!