Abstand

Nein, ich bin keine Corona-Leugnerin. Und ja, ich bin froh, dass wir hier bei uns bisher relativ gut durch diese letzten völlig irren Monate gekommen sind. Ich bin außerdem froh, dass ich in keiner Position bin, in der ich blitzartig (und später weniger blitzartig) Regeln aufstellen muss, hinter denen sich nicht nur 80 Millionen Peoples, sondern auch noch unzählige Wirtschaftsbranchen, Einrichtungen, Vereine und was sonst noch alles versammeln können, und es wundert mich nicht, dass es nicht immer gelingt. Ich bin ja schon damit überfordert, für einen Vier-Personen-Haushalt die Essens- und Urlaubsplanung so zu machen, dass keiner motzt.

Ich bin auch diejenige, die stets für die Einhaltung der Vorschriften plädiert, selbst wenn sie sich nicht auf Anhieb erschließen, sondern die einen oder anderen großen Logiklöcher aufweisen. Ich fordere sowohl für die Politik als auch für die Forschung die Möglichkeit, sich auf unbekanntem Terrain nach dem Motto „Trial and Error“ zu bewegen, ohne dass der Rest des Landes gleich Unfähigkeit oder gar Böswilligkeit vermutet. Ich versuche, der Krise etwas Positives abzutrotzen (Delfine in Venedig und so) und sie frei nach Kurt Tepperwein als Chance zu sehen, wenn schon auf nichts Genaues, dann zumindest auf persönliches Wachstum. Davon kann man ja nie genug haben. Ich habe mich zum Beispiel zur Expertin in Sachen Masken-Management entwickelt, dazu vielleicht an anderer Stelle mehr.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich mache gerne alles mit, wenn es der höheren Sache dient, und ich bin auch der Meinung, gut mit ungewissen Situationen umgehen zu können, auch wenn sie lang dauern und existenziell sind. Doch obwohl ich mich – wie ich wohl ausreichend dargelegt habe – für sehr vernünftig halte, merke ich, dass ich an meine Grenzen komme. Soll ich Ihnen sagen, warum: Ich hasse Abstand. Letztens auf einer Klausurtagung, die wir nach vielfachem Hin- und Herdiskutieren und natürlich unter dem Gebot der absoluten Freiwilligkeit so richtig schön analog geplant hatten, war „Abstand“ das meistgehörte Wort: „…und wir wollen alle Abstand halten“. „Bei der Weinprobe bitte Abstand halten“. „Beachtet bitte den Mindestabstand.“ Abstand mag ja bei der Begegnung mit bestimmten Menschen auch ohne das Virus schön sein, aber so als Grundhaltung ist Abstand halt echt Scheiße. Keine Angst, ich werde jetzt nicht über Sie herfallen oder so, ich werde es weiter versuchen, aber es fällt mir einfach schwer. Wahrscheinlich, weil dieses Wort sinnbildlich für alles steht, was ich eigentlich will, aber verboten ist:

Ich will meine Mutter drücken, wenn ich sie mal sehe. Und natürlich meine Freundinnen, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich möchte auf Tagungen meiner Sitznachbarin irgendetwas völlig Irrelevantes ins Ohr lästern und ich möchte Menschen, denen ich begegne, die Hände schütteln und nicht erst lange fragen, wie wir es machen wollen und dann, wenn man sich wirklich mal die Hand schüttelt oder am Ende sogar umarmt, ängstlich und ertappt um mich schauen, wie zuletzt als Zwölfjährige, die im Wald heimlich ihre erste Zigarette geraucht hat oder Schlimmeres.

Ich möchte nicht als Erstes, Zweites und Drittes über Verbotsschilder fallen, wenn ich irgendwo reingehe, ich möchte nicht zum tausendsten Mal genötigt werden, mir die Hände zu desinfizieren, als beträte ich eine Intensivstation, und ich möchte es nicht normal finden, in eine Richtung rein und in die andere rauszugehen, geleitet von vielen bunten Pfeilen und in die Schranken gewiesen von Flatterband. Und so schön und praktisch es manchmal auch ist, beim Einkaufen auch mal einer ungeliebten Begegnung aus dem Weg zu gehen, indem man vorgibt, das Gegenüber nicht zu kennen und auch selbst nicht die vermeintlich Erkannte zu sein, ist es einfach blöd, nicht das Gesicht des Gegenübers zu sehen, wenn man sich trifft und unterhält. Da kann man noch so viele Lachfältchen aktivieren wie man will – und ich habe davon einige zu bieten – und das Augenleuchten anstellen auf Teufel komm raus – ohne die untere Gesichtshälfte ist die Mimik halt einfach nicht mal halb so gut.

Außerdem befällt mich bei vielen Einschränkungen im öffentlichen Leben, die „aufgrund der aktuellen Situation“ auftreten, die heimliche Vermutung, dass nicht wenigen Organisationen und Unternehmen diese ganz rechtkommen und das Zeug dazu hätten, auch nach Corona – whenever – weiterhin Bestand zu haben. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich hoffe, dass Einrichtungen wieder regelmäßig öffnen und Geschäfte zu ihren normalen Öffnungszeiten zurückkehren, dass Spuckschutze oder wie auch immer sie heißen, die eilig aufgestellten Plexiglasscheiben und -wände wieder verschwinden, die Markierungen auf den Böden, die Desinfektionsständer…

Und als wäre das alles nicht schon schlimm und anstrengend genug, gibt es immer noch und immer mehr Mitmenschen, die endlich Grund haben, alle Regeln noch ein wenig strenger zu handhaben, päpstlicher als der Papst sozusagen, und nicht müde werden, ihre Zeitgenossen dahingehend zurechtzuweisen. Ich versuche, alles zu verstehen: Angst um sich selbst, seine Kinder, seine Eltern. Ich hoffe doch selbst bei jedem kleinen Schnupfen in der Familie, dass es nur eine normale Erkältung ist, und bei jeder Erhöhung der Körpertemperatur, dass es sich um klimakterische statt viraler Ursachen handelt. Aber ich will mich dieser Angst nicht ergeben. Ich will einen Weg finden, mit dem Virus zu leben ohne Paranoia und Besserwisserei, aber mit dem gebotenen Respekt vor der Gefahr. Ich weiß nicht, ob es reicht, zusätzlich zu den gesetzlichen Bestimmungen den viel zitierten gesunden Menschenverstand einzusetzen. Zumal man ja auch nie sicher sein kann, dass dieser in ausreichendem Maß vorhanden ist.

Aber ich will es probieren. Vielleicht nützt es ja was.