Abrikadabri

Vergangene Woche war ich auf Zeitreise. Schön war’s. Und laut. Und voll. Fast aus Versehen hatte ich nämlich in großen zeitlichen Abschnitten Konzertkarten für zwei nah beieinander liegende Ereignisse gekauft. Die Erste Allgemeine Verunsicherung traf auf Mark Forster. Oder, wie man später sagen würde, Deutlichkeit trifft Weichspüler.

Im Abstand von drei Tagen machten wir uns also auf die Socken. Konzert A war bestuhlt. Schließlich ist die Kundschaft der EAV mit den Herren selbst, die unter dem Motto „1000 Jahre EAV“ auf Abschiedstournee sind, ergraut und erlahmt, schwerhörig und kurzsichtig geworden und gibt sich zu großen Teilen auch bei den krassesten Beats mit ein wenig Sitztanz zufrieden. Selbst wenn einem mal nach Aufstehen wäre, bleibt man sitzen. Man will ja keinen Ärger mit dem Hintermann. Am Anfang der Show hieß es, man dürfe nicht filmen und fotografieren, sodass nur wenige Unentwegte mal ab und an verschämt das Handy hochhielten. Man will in unsrem Alter ja nix Verbotenes mehr tun. Pünktlich um 20 Uhr startete die Band ohne Vorgruppe ihr dreistündiges, pausenloses Konzert ohne viel Tamtam. Wenn man mal davon absieht, dass ihr Sänger Klaus Eberhartinger sich im Sarg rein- und später wieder raustragen ließ. Seinen gleichaltrigen Fans gab er zwischendurch noch den Tipp, immer mal mit der Hand im Blumentopf zu schlafen, damit man sich langsam an ein Dasein in der Erde gewöhnt. Ja, so san’s halt, die Österreicher, a bissl morbid. Ansonsten hielten die Jungs, was sie versprachen: Sie lieferten richtig gute alte Rockmusik ohne großen Schnörkel. Den gönnten sie sich bei ihren Verkleidungen, mit denen sie sich in erster Linie selbst wahlweise erfreuten oder auf die Schippe nahmen. Das Bühnenbild war ein in unterschiedlichen Farben beleuchteter Vorhang, hinter dem Scherenschnitte wackelten, und wenn es besonders brisant wurde in den wortwitz- und anspielungsreichen Texten der Österreicher, dann mussten die Rowdies und die Kostümbildnerin als Statisten über die Bühne ziehen, wahlweise als Wildschwein, Priester, Bordsteinschwalbe oder das bekannte Burli. Kleine szenische Einlagen, bei denen man genau zuhören musste, und große politische Statements, die keine Fragen offenließen, gehörten mit zum Programm, dazu einige wehmütige Rückblicke auf die Frage, wo wohl die letzten 40 Jahre geblieben seien. Da sich genau das das klassische EAV-Publikum auch ständig fragt, war natürlich direkt eine Basis für einen schönen gemeinsamen Abend geschaffen, der mit der zweiten Zugabe um kurz vor elf dann doch noch im Stehen endete und die Gäste mit dem ewigen Ohrwürmern vom Märchenprinz und der Fata Morgana in die Sommernacht verließ.

Drei Tage später hatte sich die Zeituhr von den 80er-Jahren vierzig Jahre weitergedreht: Für die 10er-Jahre des 21. Jahrhunderts steht wohl kaum ein anderer so wie Mark Forster, der immer lacht, der immer freundlich ist, der immer alle mitnimmt, und dessen Message „Es wird gut sowieso“ so schön wie falsch ist, wie man in meinem Alter weiß, obwohl man sie gerne mitsingt und sich davon genauso gerne ein wenig einlullen lässt. Die Karten hatten wir unseren Jungs zum Geburtstag geschenkt und schon bei der Ankunft auf dem Fuldaer Uni-Platz, wo tags zuvor noch 2000 Stühle standen und sich jetzt 5000 Menschen unter 20, davon 2500 unter 10 Jahren tummelten, wurde uns klar, dass wir den Altersdurchschnitt ganz soft nach oben abrundeten.

Mit einer halben Stunde Verspätung erschien eine Vorgruppe auf der Bühne, die das Kontrastprogramm zu Mark Forsters Gute-Laune-Songs ablieferte und gute Chancen hat, am Totensonntag wieder gebucht zu werden. Eine weitere Stunde später – da war ich leider gerade auf dem nahegelegenen Dixie-Klo – brachte wohl jemand unter großem Applaus einen Mikrofonständer auf die Bühne, ein Zweiter das Mikro, ein Dritter schaltete es an. Und schon ging es los. Während ich noch mit dem Security-Mann verhandelte, ob es zu seinen Aufgaben gehörte, das Klopapier nachzufüllen – schließlich hat dies einen ganz erheblichen Sicherheitsaspekt, eine Ansicht, die er nicht mit mir teilte -, flashte Mark los und alle wippten mit. Wie schön! Die kleinsten Kids auf den Schultern ihrer Väter, textsicher bis zu „fucking Yoko Ono“, von der sie ohne Mark Forster nie gehört hätten. Die größeren noch ein bisschen verschämt, damit es nicht zu peinlich wird, und die Mütter – also, die jüngeren als ich, von denen es aus irgendeinem Grund immer mehr gibt – schwangen ihre Hüften und wandten ihren Blick nicht von dem jungen Mann mit der Basecap, dessen Name wiederum mein Mann bis zu diesem Abend nicht mal kannte. Er hatte ihn auch nicht vergessen, wozu Mark Forster in seinem Hit „Au revoir“ ja geradezu auffordert. Er hatte ihn einfach noch nie gehört. Ebenso wenig wie den von Paddy Kelly, den Mark Forster während seiner Show anrief, oder den von Sido, der ebenfalls angerufen wurde, denn dies war eine explizite Handyshow. Der Rapper bestritt über Handy auf der großen Leinwand einen Song mit, auch sonst waren Handys überall, in der Luft, am Ohr – selbst mit einem relativ guten Platz mit Sicht auf die Bühne, stoppte der Blick meist an einer Wand aus Handys, die den Sound, den mein Mann mit „immer die gleichen Akkorde, dazu einfache Texte, bestehend aus Sätzen mit maximal vier Wörtern, die jeweils zweimal wiederholt und dann von einem schönen „Lalala“ eingerahmt werden“ beschrieb, aufnahmen, um dort für immer auf der SD-Karte zu schlummern wie alles andere auch. (Unnötig zu erwähnen, dass Textzeilen wie „Ba-Ba-Banküberfall“ oder „Abrikadabri und fort war sie“ dem geneigten EAV-Fan fast Grimme-Preis-verdächtig erscheinen.) Mit verschiedenen Explosionen aus den Konfettikanonen, den Rauchmaschinen und den Feuerwerkskörpern lieferten Mark Forster und seine Band eine Mega-Show ab. Wie früher auf den Kindergarten-Mitmach-Konzerten, die mir damals schon suspekt waren, machten alle (außer meinem Mann und mir) die ausgefeilten Handzeichen in Form von Herzchen, Winken und Schwimmbewegungen mit. Fuß- und rückenlahm sehnten wir uns inzwischen nach der Bestuhlung aus dem EAV-Konzert und zogen in Erwägung, das nächste Mal einen Rollator mitzunehmen, auf dem wir uns sitzend abwechseln könnten.

Vor wenigen Wochen war ich schon bei Ulla Meinecke, der Heldin meines jungen Erwachsenenlebens, gewesen, bald steht noch Konstantin Wecker auf dem Programm, dem ich in noch jüngeren Jahren bedenkenlos meine Unschuld geopfert hätte. Und Musik, so stelle ich fest, hat immer was mit viel Gefühl zu tun, mit Erinnerungen, die schon bestehen oder neu dazukommen. „Weißt du noch, damals auf dem Mark-Forster-Konzert“, werden sich in vierzig Jahren einige der heutigen Kids erinnern. Wo ich dann sein werde, weiß ich auch ohne die guten Tipps der EAV. Schade eigentlich.