Abitur, Abitur!

Mann, Mann, Mann, war das eine anstrengende Zeit! Vom ersten Lernen bis zu den Prüfungen bin ich bald wahnsinnig geworden, zumal das erste Lernen erst vergleichsweise spät losging, zu spät für meinen Geschmack, aber ich hatte das ja auch nur wenig bis gar nicht in meiner Macht. Wenn man als Mutter, die – Mädchen eben – die ganze Oberstufe hindurch von kontinuierlichem Arbeiten und zum Abitur hin von einem strengen Lernplan träumt, dann musste man in meinem Fall ganz schön an sich arbeiten. Mein Alter Ego auf dem Endspurt zum Abitur war ein gechillter Achtzehnjähriger, dem es reichte, seine von seiner Mutter als exorbitant eingestuften Kapazitäten dafür zu nutzen, mit möglichst wenig Aufwand ein vergleichsweise gutes Ergebnis zu erzielen, ohne nach der letzten Prüfung total gestresst und halbtot umzufallen, dafür aber dennoch gleich wieder in den bewährten Chillmodus zu entschwinden. Ich hingegen träumte nachts wahlweise von zu programmierenden Wurstomaten – nicht dass etwas Essentielles dabei herausgekommen wäre – oder Shakespeare und sah mir in meiner Verzweiflung „Sommers Weltliteratur to go“ an. Wo wir früher noch „Königs Erläuterungen“ bemühen mussten, lässt heute ein gutaufgelegtes männliches Spielkind mittleren Alters die gute Mutter Courage mit einer Playmobil-Kutsche durch den Dreißigjährigen Krieg ziehen und erklärt dabei kurz und bündig und leicht zu merken die Quintessenz des Brecht-Klassikers wahlweise jedes anderen Abitur-Prüfungs-Aspiranten. Das kann man sich auch neben dem Zocken oder Zähneputzen mal reinziehen – und kann damit sogar auch als männlicher Mensch beweisen, dass man zwei Dinge gleichzeitig kann.

Als die Prüfungen anstanden, musste ich schwer an mich halten, nicht trotz ausdrücklichen Verbots ein großes Tuch mit „Du schaffst das, mein Kleiner! Deine Mutti“ ans Schultor zu nageln. Zum ersten Prüfungstermin kaufte ich einen kleinen, wirklich Mini-Glücksstein und legte ihn unauffällig zu den Pausenbroten. Dort blieb er liegen, als Brote und Prüfling schon das Weite gesucht hatten, aber ich war sicher, dass schon die Aura des Glücksbringers ihre Dienste tun würde. Auch widerstand ich dem heftigen Drang, eine Lern- und Leidens-WhatsApp-Gruppe mit anderen Müttern ins Leben zu rufen – obwohl mir so ein wenig Selbsthilfe in kleinen Gesprächsgruppen mit ein wenig Alkohol durchaus gutgetan hätte.

Und kaum hatte das Leiden angefangen, war es auch schon zu Ende. Äußerlich (und wahrscheinlich auch innerlich) ruhig hakte unser Abiturient seine Prüfungen ab, während ich jedes Mal hinterher völlig fertig war. Wahrscheinlich hatte er durch Telekinese allen Stress auf mich übertragen. Junge, würde ich ihm jetzt gerne zurufen, ICH, deine Mutter, habe alles für dich getragen. Aber es wäre ihm sicher peinlich. Und es wäre ja auch nicht ganz richtig, wie ich fairerweise sagen muss…

An den Abiturfeierlichkeiten war ich dann schon wieder ganz die Alte. Ich schaute mir die Reihe der Jahrgangsbesten an und zählte von 20 außergewöhnlich talentierten oder fleißigen jungen Menschen 16 junge Frauen. 16! Mehr als 75%. Wo sind die in zwanzig Jahren, frage ich mich, denn aktuell ist es immer noch so, dass Frauen irgendwo zwischen Abitur und Karriere auf der Strecke bleiben. Sie ziehen eine Ausbildung dem Studium vor. Sie absolvieren ihr Studium ruhig und ohne großes Aufheben und Networking. Sie brauchen nicht so sehr das Prestige einer Doktorarbeit. Sie übernehmen immer noch die meiste Arbeit in Haushalt und Familie. Sie geben sich nach einer Familienpause mit Teilzeit zufrieden. Was klingt, als ob das alles freiwillig stattfindet, ist leider nur pragmatisches Handeln angesichts dessen, was geht und von der Gesellschaft angeboten, vorgelebt und erwartet wird. Am liebsten hätte ich diesen außerdem auch noch überaus hübschen jungen Frauen zugerufen: „Zieht eure Abendkleider aus und die Boxhandschuhe an“, doch auf Kämpfe hat man ja auch nicht immer Lust. Manchmal muss man ja auch auf die Fingernägel achten. Aber nicht immer!

Am Tag nach der Zeugnisverleihung wurden auf dem Abiball die Vorbereitungsteams vorgestellt und geehrt: Von zwanzig Mitwirkenden war einer ein Mann. Und der hatte bei einer anderen Veranstaltung sogar eine Rede gehalten. Nicht mal eine gute. Ich fürchte stark, dass sich hier die Wiederholung einer katastrophalen Entwicklung abzeichnet, denn: Sollte sich die Erfolgsquote der Frauen dieses Abijahrgangs in Führungspositionen und Einkommen widerspiegeln, müsste sich gravierend etwas ändern – vor allen Dingen müssten die – meist immer noch männlichen – Wirtschaftsbosse einsehen, dass sie auf diese Koryphäen nicht verzichten können. Sie müssten weg von ihrem Einstellungskriterium „One of the boys“ hin zu „One of the best“. Aber das einzusehen ist wohl nur den Klügsten unter den Männern vorenthalten. Und das sind ja nun wahrlich nicht viele…